Die Funde wurden nach der Bergung in die klinische Anatomie der Universität gebracht und werden dort in den kommenden Wochen von Fachleuten untersucht. Die Universität Tübingen hatte zu der Grabung Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Einrichtungen hinzugezogen, darunter die Harvard Medical School, das Naturhistorische Museum in Wien, die Oxford Brookes University und die TU München. Tübinger Archäologinnen und Archäologen unter der Leitung von Professorin Natascha Mehler führten die Grabung und anschließende Exhumierung durch. Dabei wurden sie unterstützt von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Tübinger Friedhofsverwaltung sowie des Anatomischen Instituts.
»Die Existenz der vier Marmorbehälter und der beiden Urnen war uns aus den Akten bekannt«, sagte die Leiterin des Forschungsprojekts zum Gräberfeld X, Professorin Benigna Schönhagen: »Anders als erwartet, haben wir bei der Grabung aber kein zusätzliches, bislang unbekanntes Gefäß entdecken können.« Es sei allerdings nicht auszuschließen, dass Körperteile von Opfern der NS-Euthanasie sich in den am Mittwoch geborgenen vier Marmorbehältnissen befinden. Deren Inhalt müsse nun eingehend untersucht werden.
Die Universität war bereits im Jahr 1988/89 mit der Tatsache konfrontiert worden, dass Mikro- und Makropräparate von Menschen aus der NS-Zeit sich noch immer in verschiedenen medizinischen Lehrsammlungen befanden. Die Universität richtete daraufhin eine externe Untersuchungskommission ein, die eine vollständige Bestandsaufnahme vornehmen sollte. In ihrem Abschlussbericht, der im Sommer 1989 vorgelegt wurde, empfahl die Kommission, alle Präparate aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 aus dem Anatomischen Institut und sämtlichen anderen medizinischen Einrichtungen der Universität zu entfernen und in würdiger Form zu bestatten, bei deren Tod ein Zusammenhang mit Gewaltakten oder Verfolgung durch das NS-Regime nicht ausgeschlossen werden konnte. Die Beisetzung auf dem Gräberfeld X erfolgte am 4. Juli 1990 im kleinen Kreis. Eine öffentliche Gedenkfeier folgte am 8. Juli. Laut einem Sachstandsbericht, den der damalige Universitätspräsident Adolf Theis am Tag der Beisetzung an das baden-württembergische Ministerium für Wissenschaft und Kunst gesandt hat, wurden zwei Urnen sowie »vier Marmor-Behältnisse mit gläsernen Objektträgern« bestattet. Unklar bleibt bislang aber, was sich in welchem Behältnis befand und aus welchem Institut die beigesetzten Präparate stammten.
Der britische Medizinhistoriker Professor Paul Weindling hatte Anfang 2021 in einem Fachartikel den Verdacht geäußert, dass Verantwortliche der Universität im Juli 1990 auch sterbliche Überreste von minderjährigen Euthanasieopfern auf dem Gräberfeld X des Tübinger Stadtfriedhofs bestattet haben. Der Vorgang sei seinerzeit gegenüber der Öffentlichkeit und auch gegenüber der externen Untersuchungskommission verschwiegen worden. Eine erste Überprüfung des Aktenbestands im Universitätsarchiv durch Professorin Schönhagen hatte im Laufe des Jahres 2021 weitere Hinweise erbracht, die den von Weindling geäußerten Verdacht erhärteten. Daraufhin hatte die Universität Ende 2021 bei der Universitätsstadt Tübingen eine Exhumierung beantragt mit dem Ziel, die Präparate zu finden und die Opfer namentlich zu identifizieren. Oberbürgermeister Boris Palmer hatte das Vorgehen am 11. Februar 2022 genehmigt.
Nach Recherchen Weindlings stammen die sterblichen Überreste der Euthanasieopfer aus der so genannten Kinderfachabteilung Wiesengrund in Berlin-Wittenau, in der während des Zweiten Weltkriegs eine Vielzahl von psychisch kranken Kindern ermordet wurde. An der Einrichtung tätige Ärzte entnahmen den getöteten Kindern die Gehirne und präparierten diese für Forschungszwecke. Der für Wiesengrund tätige Pathologe Berthold Ostertag soll die Hirnpräparate von insgesamt 106 Opfern nach dem Krieg nach Tübingen gebracht haben. Ostertag baute an der Universität Tübingen nach Kriegsende das Institut für Hirnforschung auf und leitete dieses bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1964. Weindling stützt sich in seinen Recherchen maßgeblich auf Aussagen von Ostertags Nachfolger an der Spitze des Tübinger Instituts für Hirnforschung, Professor Jürgen Peiffer, der im Dezember 2006 verstarb.
Das Gräberfeld X des Tübinger Stadtfriedhofs diente dem Anatomischen Institut von 1849 bis 1963 als Begräbnisstätte. Ab 1952 gestaltete es die Universitätsstadt Tübingen schrittweise zu einem Gedenkort um, an dem die Toten ewiges Ruherecht haben. Im Gräberfeld X liegen mehrere hundert Opfer der NS-Gewaltherrschaft begraben. Sie stammen nicht nur aus Deutschland, sondern aus weiten Teilen Mittel- und Osteuropas: Kriegsgefangene, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie Opfer der NS-Justiz. 1990 stiftete auch die Universität einen Gedenkstein. Symbolisch steht das Gräberfeld X als Denkmal für die NS-Opfer und als Mahnmal für die NS-Gewaltherrschaft. Stadt und Universität finanzieren seit 2020 gemeinsam ein Forschungsprojekt mit dem Ziel, die Biographien der auf dem Gräberfeld bestatteten Menschen zu rekonstruieren und die Rolle der Anatomie in der NS-Herrschaft zu erforschen.