Im Mittelalter wurden Behinderte als "Krüppel" oder "Geistigminderbemittelte" ausgegrenzt und lebten mehr oder weniger abgesondert am Rande der Gesellschaft. Sie waren auf das Wohlwollen ihrer Angehörigen und Mitmenschen angewiesen - Almosen waren unverzichtbar. So stellt man sich das "dunkle Mittelalter" gerne vor. Aber war es wirklich so, dass "beeinträchtigte Menschen" systematisch ausgegrenzt wurden? Welche Überlebensstrategien wurden entwickelt? Und welche dieser Strategien haben heute noch Gültigkeit? Mit der sozialen Einbindung und Lebensbewältigung beeinträchtigter Menschen im Mittelalter beschäftigt sich ein neues Forschungsprojekt im Institut für Geschichtswissenschaft im Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Bremen. Das Projekt, unter Federführung der beiden Bremer Professorinnen Cordula Nolte und Uta Halle in Kooperation mit Professor Stephan Selzer von der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, ist auf drei Jahre angelegt und wird von der deutschen Forschungsgemeinschaft mit insgesamt 311.000 Euro gefördert. Davon entfallen rund 258.000 Euro auf die Universität Bremen.
Auch heute ist die gesellschaftliche Integration gebrechlicher und beeinträchtigter Menschen zentrales Thema in den aktuellen Debatten über unser künftiges Sozialgefüge. Das Forschungsprojekt greift diese Diskussionen im interdisziplinären Zusammenhang von Geschichtswissenschaft, Archäologie, Anthropologie und Kunstgeschichte auf und fügt ihnen eine historische Perspektive hinzu. Es nimmt die vormoderne Gesellschaft in den Blick, in der von der bäuerlichen Bevölkerung bis zum Adel die körperliche und geistig-seelische Funktionsfähigkeit ein wesentliches Kriterium dafür darstellte, in welchem Umfang Menschen am sozialen Leben teilhaben und individuelle Lebenschancen innerhalb ihrer Gruppe realisieren konnten. Es gilt zu untersuchen, inwiefern es gebrechlichen und versehrten, arbeitsunfähigen, pflege- und hilfsbedürftigen Menschen gelang, dank der Integration in soziale Netzwerke zu überleben. Von dieser übergreifenden Leitfrage ausgehend, behandeln fünf Einzelprojekte verschiedene Schwerpunkte: die Arbeitsunfähigkeit im spätmittelalterlichen Handwerk, die Repräsentation beeinträchtigter Menschen in Bildzeugnissen, den Umgang mit Kriegsinvalidität, den Nachweis von Pflege- und Behandlungsmöglichkeiten anhand archäologischer Quellen und schließlich anthropologisch-osteologische Befunde am Skelettmaterial der mittelalterlichen Bremer Bevölkerung.