Aufbruch in eine neue Welt

Die Archäogenetik ermöglicht »Zeitreisen« in die dynamische Vergangenheit menschlicher Populationen weltweit. Die Integration von archäologischen und anthropologischen Daten zeigt, dass grundlegende Veränderungen von Lebensweise, Kultur, technischem Wissen und sozialen Systemen oft mit der Mobilität und Interaktion von Menschen verbunden waren. Anhand der Untersuchung von 131 Individuen aus einem Zeitraum von 6.000 Jahren, die aus der erweiterten Kaukasusregion stammen, konnte ein internationales Forschungsteam nun eine Reihe von Schlüsselereignissen rekonstruieren, die die Basis für die wirtschaftliche Erschließung des westeurasischen Steppengürtels bildeten.

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Grabhügel im Kaukasus
Grabhügel sind die emblematischsten archäologischen Monumente des bronzezeitlichen Eurasiens. Im Kaukasusgebirge wurden sie bis in große Höhen errichtet und markieren die Kommunikationsnetze, über die Wissen und Innovationen weitergegeben wurden. Foto: © Sabine Reinhold, DAI Eurasia-Department

Die Kaukasusregion zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer verbindet Europa und Asien. Von der Steppe im Norden über das Hochgebirge des Großen Kaukasus im Zentrum bis zu den Hochebenen des heutigen Armenien, Georgien, Aserbaidschan und Iran im Süden weist sie eine große geographische, ökologische, wirtschaftliche, kulturelle und sprachliche Vielfalt auf. Archäologische Funde, die auf weitreichende Einflüsse aus den umliegenden Regionen hindeuten, belegen diese Vielfalt auch in der Vergangenheit.

»Genau diese Schnittstelle zwischen verschiedenen ökogeographischen Merkmalen und archäologischen Kulturen macht die Region so interessant«, erklärt Wolfgang Haak, Hauptautor und leitender Wissenschaftler der Studie. »Wir haben mehrere archäologische Perioden in ihrer Abfolge betrachtet, um die Zeiträume zu identifizieren, in denen zum Beispiel die ersten Bauern in die Region kamen oder in denen die Kombination von Innovationen in der Viehhaltung, der frühen Milchwirtschaft und der Mobilität einen autonomen nomadischen Lebensstil ermöglichte, der an die Nutzung der riesigen eurasischen Steppenzone und ihrer Ressourcen angepasst war.«

Das Team liefert mehrere Nachweise für Interaktion und Genfluss zwischen den Bevölkerungen in den wichtigsten ökogeographischen Zonen der Hochgebirgs- und Steppenregionen nördlich des Kaukasus. »Ursprünglich können wir zwei unterschiedliche genetische Abstammungslinien bei Jäger- und Sammlergruppen nördlich und südlich des Großen Kaukasus feststellen«, sagt Erstautorin Ayshin Ghalichi, Doktorandin am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.

Dieses Bild veränderte sich mit der Ankunft der ersten Ackerbauern aus Nordmesopotamien im 6. Jahrtausend v. Chr., der zwei Vermischungsprozesse folgten: Einerseits zwischen den frühen westasiatischen Ackerbauern und den kaukasisch-iranischen Jägern und Sammlern, die südlich des Kaukasus die vorherrschende genetische Abstammungsgruppe bildeten, und andererseits zwischen den zuvor genannten Jäger- und Sammlern im Norden der Berge. Letztere führte zu dem charakteristischen genetischen Profil der Bevölkerung in der Steppenzone nördlich des Kaukasus. Im Laufe des folgenden 5. und 4. Jahrtausends v. Chr. entstanden in den Flusstälern der nordpontischen Steppe kupferzeitliche Kulturen, die sich archäologisch durch den Bau erster Grabhügel, so genannter »Kurgane«, manifestierten. Sie trafen im nördlichen Kaukasusvorland auf Gruppen, die aus dem Süden eingewandert waren. Dieses Aufeinandertreffen resultierte im 4. Jahrtausend v.Chr. in zahlreichen technischen und sozialen Innovationen.

Aufbruch in eine neue Welt

»Es ist eine Blütezeit des Wissens- und Technologietransfers im Nordkaukasus, in der wir sehr ähnliche kulturelle Elemente in genetisch unterschiedlichen Gruppen sehen, aber auch viele Anzeichen von Interaktion und kulturellem Austausch«, erklärt Sabine Reinhold, Koautorin und leitende Wissenschaftlerin am Deutschen Archäologischen Institut in Berlin. »Wir sehen, wann Gruppen begannen, ihre Lebensweise an eine mobilere Wirtschaft anzupassen, die optimal zu den scheinbar endlosen Graslandschaften Eurasiens passte.« Tatsächlich belegen die archäologischen Funde entscheidende Innovationen im Herdenmanagement, frühe Milchwirtschaftspraktiken und Mobilität durch die Nutzung von Rad und Wagen, mobiler Architektur, die beginnende Domestizierung von Pferden und vieles mehr. »Die heutige globale Milchwirtschaft basiert auf diesen Innovationen aus der Bronzezeit«, sagt Christina Warinner, Koautorin und Professorin für Anthropologie an der Harvard University. »So wurde aus einer Nischentechnologie ein multikontinentales Phänomen.«

Haltbare Lebensmittel wie die frühen Formen des Käses und Innovationen im Transportwesen ermöglichten es erst, die eurasische Steppe dauerhaft zu besiedeln. Sie trugen dazu bei, Kontinent weite Kommunikationsnetze aufzubauen. Diese Kombination von Neuerungen ebnete um die Wende zum 3. Jahrtausend v.Chr. den Weg für einen vollständig mobilen Lebensstil als Viehzüchter, der unter anderem auch von den Gruppen des Jamnaja-Kulturkomplexes praktiziert wurde und sich rasch über die gesamte westliche Steppenzone bis in die Mongolei im Osten und das Karpatenbecken im Westen ausbreitete. Interessanterweise war dies auch die Zeit, in der kaukasische Gruppierungen wie die Kura-Araxes-Kultur Georgiens sich nach Süden bis nach Ostanatolien, die Levante sowie den Iran ausbreiteten, aber keine Verbindung zur nördlichen Steppenzone hatte.

Das Team untersuchte auch die sozialen Strukturen dieser prähistorischen Bevölkerungen, indem es biologische Verwandtschaften analysierte, und konnte dabei Unterschiede zwischen den Steppen- und Kaukasus-Gruppen feststellen. Die sesshafteren Gruppen aus dem Kaukasus wiesen einen höheren Grad an Konsanguinität zwischen Menschen auf, die in denselben und/oder in nahe gelegenen Kurganen bestattet waren, während die Steppengruppen nur sehr wenige solcher Beziehungen hatten. Dies deutet auf eine andere soziale Organisation der mobilen Viehzüchter hin.

Auflösung und Transformation

Die Wende zum 2. Jahrtausend v. Chr. leutete eine neue Phase im Zusammenspiel zwischen Steppen- und Kaukasusbevölkerung ein. Ausgelöst durch eine Periode der Austrocknung, eine mögliche Übernutzung der ökologisch sensiblen Grasländer und unzuverlässige Niederschläge wurde die Steppenzone weitgehend entvölkert. Die neue Studie liefert eindeutige Belege für eine erneute Annäherung und Vermischung der Bevölkerungen aus Steppe und Kaukasus. Die so entstandenen Gruppen der mittleren und späten Bronzezeit zogen sich in die Berge des Großen Kaukasus zurück, wo sie eine sesshafte Almwirtschaft etablierten. Diese Transformation bildete die kulturelle und genetische Grundlage für die heute im Nordkaukasus lebenden Bevölkerungsgruppen.

»Unsere integrierte Studie ist ein schönes Beispiel für die menschliche Widerstandsfähigkeit, Anpassungsfähigkeit und Innovationskraft angesichts ökologischer, ökonomischer und sozio-politischer Veränderungen«, fasst Ko-Autor Svend Hansen, Direktor der Eurasien-Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts in Berlin, zusammen. Sie unterstreicht die Bedeutung des Kaukasus für die kulturellen Entwicklungen in Eurasien, aber auch, wie wichtig es ist, bei der Erforschung dieser Prozesse mit vielen Disziplinen zusammenzuarbeiten.

Schafe in der Steppe
Schafe sind entscheidend für den Wohlstand von mobilen Viehhirten in der Steppe. Sekundärprodukte wie Milch und Wolle wurden bereits im 4. Jahrtausend v. Chr. genutzt. Foto: © Jana Eger, privat
Publikation

Ayshin Ghalichi et al.

The rise and transformation of Bronze Age pastoralists in the Caucasus

Nature. 30.10.2024
DOI: 10.1038/s41586-024-08113-5
https://www.nature.com/articles/s41586-0...