Eine alte Mauer gibt Museumsdirektor Simon Matzerath Rätsel auf. Sie ist der erhaltene Teil des "Roten Turms" in der unterirdischen Saarbrücker Burg: ein Ort mit außergewöhnlicher Atmosphäre. Besucherinnen und Besucher des Historischen Museums Saar lässt er eintauchen in vergangene Zeiten. Wer hier hinabsteigt, dem wird Geschichte spürbar. Der Rote Turm gilt von alters her als einer der ältesten Teile der Burg. Aber ist dem wirklich so? Das Gebiet, auf dem heute das Saarbrücker Schloss steht, war fortwährend im Wandel. Urkundlich belegt ist eine erste Burg schon im Jahr 999. Auf dem Saarfelsen wurde seither gebaut, abgerissen, umgebaut, zerstört, wiedererrichtet und verändert. Das muss man wissen, will man die Mauer verstehen.
Das Terrain war Grafschaft im Mittelalter. Heinrich II. richtete 1009 Schäden an der Burg an. "Staufer-Kaiser Friedrich Barbarossa schleifte die Burg im Jahr 1168", sagt Simon Matzerath, der ab Juli als Leiter an der Spitze des saarländischen Landesdenkmalamtes stehen wird. "Es ist nicht wirklich bekannt, wieviel er tatsächlich zerstörte, wie viele ihrer Mauern er einreißen ließ oder ob er eher – symbolisch gesprochen – nur die Fahne abknickte“, sagt der Museumsdirektor, der auch einen Lehrauftrag im Fachbereich Vor- und Frühgeschichte der Universität des Saarlandes innehat. Die Burg wurde jedenfalls wiedererrichtet. Später stand sie unter nassauischer Herrschaft, ab dem sechzehnten Jahrhundert lag sie mitten im beständig umkämpften Grenzgebiet, ab 1602 wurde aus der Burg ein Renaissanceschloss, das noch im selben Jahrhundert zerstört und im achtzehnten wieder aufgebaut wurde – und so fort. Jede Generation, jeder Krieg drückte hier ihren und seinen Stempel auf.
Mit der Mauer des ehemals Roten Turms stimmt offensichtlich etwas nicht. Seine Steine sind zum Rund geschichtet. Aber auf eine Art und Weise, die Simon Matzerath und auch Matthias Paulke vom Landesdenkmalamt verwundert. "So hätte im Mittelalter kein Baumeister gebaut", sagt Matthias Paulke. "Da liegen etwa Fugen in gleicher Flucht – das bedeutet eine Einbuße an Stabilität und wäre Schwachstelle bei jedem Angriff gewesen." Die massiven Steinquader aus 240 Millionen Jahre altem Sandstein sind fachmännisch behauen und haben ringsum einen präzisen Rand. "Es handelt sich um Buckelquader mit sauber abgeschlagenem Randschlag, die für die Zeit Mitte des zwölften bis Mitte des dreizehnten Jahrhunderts typisch sind", erklärt Simon Matzerath. "Zweck des Randes", merkt Matthias Paulke an, "war eher nicht, zu verhindern, dass feindliche Leitern hochgeschoben werden können, wie es zuweilen heißt, sondern die Bauleute sollten sich beim Aufeinandersetzen der Steine nicht die Finger klemmen." Wer solche Steine derart fachmännisch bearbeitet, schichtet sie nicht so, wie es hier zu sehen ist. Offensichtlich: Hier ist etwas passiert. Aus welcher Zeit datiert sie nun, die Ruine des Roten Turms?
Simon Matzerath wandte sich an Archäologin Sabine Hornung von der Universität des Saarlandes. "Es geht uns darum, wissenschaftlich vorzugehen. Deshalb haben wir Professorin Hornung angefragt, die Dokumentation – als Hauptschritt des Beweises unserer Hypothese – zu übernehmen: Wir gehen davon aus, dass die Steine aus einem Vorgängerbau stammen, vermutlich des ausgehenden zwölften oder dreizehnten Jahrhunderts; sie waren wohl Teil eines ursprünglich rechteckigen Turms. Zu späterer Zeit, vermutlich im vierzehnten oder fünfzehnten Jahrhundert, wurden sie wiederverwendet für den runden Roten Turm", erklärt Matzerath. Hintergrund könne sein, dass sich die Waffentechnik und die Rolle der Flanke in Richtung St. Arnual wandelte. Es wurde in kriegerischen Zeiten zur Verteidigung ein besonders hoher, runder Flankenturm benötigt. Und augenscheinlich musste es dabei schnell gehen, jedenfalls wurde ohne große Handwerkskunst mit vorhandenem Material gebaut. "Das wird sehr deutlich, wenn man sich mit dem Befund befasst. Es wurde offenbar mit wenig Anspruch an Statik vorhandenes Baumaterial geschichtet", sagt Studentin Isabel Kriebelt-Braun, die Architektin studiert Archäologie an der Universität des Saarlandes.
"Die Bauaufnahme des Turms ist für meine Studierenden eine hervorragende Übung", sagt Sabine Hornung. "Für mich ist die Zusammenarbeit der Akteure in unserem Bereich im Saarland sehr wichtig. Synergien zu nutzen, bringt uns weiter. Museum und Landesdenkmalamt zu unterstützen, den Baubefund am Roten Turm zu dokumentieren, ist ein Gewinn für alle Seiten", erklärt die Archäologin. Zusammen mit fünf ihrer Studierenden begab sie sich dabei auf ungewohnt junges Terrain. Fachgebiet der Professorin für Vor- und Frühgeschichte ist eigentlich die Archäologie Ostgalliens, die Spuren der Römer und Kelten in unserer Großregion, Mobilität und Migration, Kultur- und Technologietransfer vor rund 2000 Jahren und die Entwicklung der Landschaft durch die Zeit. Sie leitete zahlreiche Grabungen, entdeckte unter anderem 2012 eines der ältesten römischen Militärlager in Deutschland nahe Hermeskeil und schrieb so ein Stück Weltgeschichte neu.
Nach theoretischen Einführungen in die Materie – auch aus der Praxis mit Simon Matzerath und Matthias Paulke – gingen die Studierenden ans Werk. Sie erstellten zunächst in Zusammenarbeit mit Linda Sagl, Inhaberin der Firma Archäoplan, ein präzises digitales dreidimensionales Modell mittels zahlreicher überlappender Digitalfotoaufnahmen. "Diese maßstabs- und detailgetreuen 3D-Modelle errechnen wir bei unseren Grabungen aus zweidimensionalen Digitalaufnahmen mittels sogenannter Structure from Motion-Technik, kurz SfM. Dies macht uns möglich, Grabungsflächen oder – wie in diesem Falle, für uns eine schöne Abwechslung: die mittelalterliche Mauer – dreidimensional von allen Seiten zu betrachten", erklärt Sabine Hornung. "Hierzu wurde die Mauer zunächst von allen Seiten systematisch fotografiert, so dass sich die Fotos überlappen", erklärt Studentin Maria Schmitt. Jeder einzelne Bildpunkt der Mauer landete so auf mindestens zwei oder mehreren Bildern, woraus der Computer eine Punktwolke zusammensetzt, die immer dichter wird. Diese Punkte werden in einer Netzstruktur zu einem farbigen 3D-Modell verbunden.
Die Studierenden erfassten den Baubefund der Mauer akribisch Stein für Stein, Fuge um Fuge. Mit technischer Hilfe von Linda Sagl wurde die Mauer auch professionell vermessen. Für die Bauaufnahme musste das 3D-Modell in eine zweidimensionale Darstellung "abgewickelt" werden, wie die Fachleute sagen. "Wir setzten die Mauer also in eine maßstabgetreue Zeichnung um", erklärt Archäologie-Studentin Johanna Maßong. Viele Indizien verraten etwas über die Geschichte der Mauer: wie die Breite der Fugen, das Fehlen von Zangenlöchern, die zu manchen Zeiten verwendet wurden, um die Steine zu bewegen, das Fehlen von Steinmetzzeichen oder sogar römische Ziegel, die verbaut wurden – hier übrigens zwei. All solche auf den ersten Blick scheinbar nebensächlichen Einzelheiten können für die Datierung wichtig werden. "Wir haben 92 Steinmetzzeichen in unserer unterirdischen Burganlage, die wir alle in eine nur sechsjährige Baumaßnahme im 16. Jahrhundert zuordnen können. Am Roten Turm fehlen sie, was ebenso aufschlussreich ist", sagt Simon Matzerath.
3D-Modell und Zeichnung bilden jetzt als wissenschaftliche Dokumentation die Grundlage, auf der eine Auswertung und weitere Arbeit aufsetzen wird, um das Rätsel um die Ruine des Roten Turms zu lösen – und so ein Stück Saarbrücker Stadtgeschichte aus dem Dunkel der Vergangenheit ans Licht zu holen.