Vor Beginn der Grabungsarbeiten deutete wenig auf die Existenz eines antiken Großbaus an dieser Stelle hin. Auf dem sanft abfallenden, mit Trauben bepflanzten Feld waren keine Spuren antiker Architektur zu erkennen. Georadarmessungen, die unterirdische Strukturen sichtbar machen, hatten jedoch bereits im Vorfeld der Kampagne Hinweise auf unter der Oberfläche verborgene Mauerzüge gegeben. Ihre Dimensionen verrieten zudem, dass sie dem öffentlichen Raum der antiken Stadt zuzurechnen sind. Die Grabungen konnten die Vermutungen der Wissenschaftler bestätigen.
Soweit bislang erkennbar, liegt im Zentrum des Feldes ein ost-west orientierter Tempel von rund 35 Meter Breite. Sein Innenraum schließt im Westen mit einer Apsis, einem halbrunden Raum, ab, deren Breite etwa zwölf Meter beträgt. Die seitlich angrenzenden Bereiche sind noch nicht vollständig untersucht. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass sich jeweils kleine Seitenräume anschlossen, die von der Apsis aus zu erreichen waren. "Trotz starker Zerstörungen durch eine lange Nachnutzung und Steinraub vermitteln die freigelegten Reste des Tempels auch heute noch einen guten Eindruck von seiner Monumentalität. Zudem erlauben zahlreiche Kapitell- und Gebälkfragmente von beachtlicher Größe, den Aufbau des Gebäudes schon jetzt sehr genau zu rekonstruieren", betont Grabungsleiter Engelbert Winter.
Die Erforschung des Tempels steht nach Angaben der münsterschen Wissenschaftler erst am Anfang Es zeichnet sich nach ersten Einschätzungen der Archäologen jedoch deutlich ab, dass er sich durch seine eigenwillige Gestaltung des Innenraums mit großer Apsis von den üblichen Tempelbauten des östlichen Mittelmeerraums unterscheidet. Er steht allerdings nicht alleine da, sondern findet Parallelen in Palmyra und im südlichen Syrien. "Insgesamt verspricht der Bau, neue Hinweise auf die Entwicklung der Tempelarchitektur des antiken Syrien zu geben", sagt Michael Blömer. Wer in dem neu entdeckten Tempel verehrt wurde, weiß das Team allerdings noch nicht. Dazu sind weitere Forschungen in den kommenden Jahren notwendig. Möglich scheint aber nach Einschätzungen der Wissenschaftler, dass es sich um eine Anlage des römischen Kaiserkultes handeln könnte.
Die Entdeckung unterstreicht, dass Doliche ein Ort ist, an dem die religiösen Entwicklungen des antiken Nahen Osten besonders gut archäologisch untersucht werden können. So hat das Münsteraner Team in der Vergangenheit bereits das außerhalb der Stadt gelegenen Heiligtum des Iuppiter Dolichenus, ein unterirdisches Heiligtum des Gottes Mithras und eine große frühchristliche Basilika des 4. Jh. n. Chr. freigelegt.
In den kommenden Wochen bereiten die Wissenschaftler die Veröffentlichung ihrer Forschungserkenntnisse für die Fachwelt vor. Dazu haben sie unter anderem eine eigene Buchreihe begründet, die sich den Ergebnissen der Grabung widmet, und deren erster Band im Frühjahr 2022 erscheinen wird.
Die Arbeiten in Doliche werden seit 25 Jahren unter der Leitung von Prof. Dr. Engelbert Winter in Kooperation mit der türkischen Antikenverwaltung durchgeführt. In diesem Jahr waren eine internationale Gruppe von 43 Wissenschaftlern und Studierenden sowie 25 Grabungshelfer an den Arbeiten in der Türkei beteiligt. Wichtigster Förderer ist die Deutsche Forschungsgemeinschaft.