SWR2 RadioART: Essay
Montag, 26. Juni 2006, 21.03-22.00 Uhr
Ruinen, Müll und Reste
Die Archäologie der Jetztzeit
Von Manfred Schneider
Im Jahre 1973 startete der amerikanische Archäologe William L. Rathje ein ungewöhnliches Forschungsprogramm. Er setzte seinen Spaten nicht mehr in die Erde der berühmten antiken
Grabungsstätten in Ägypten, Griechenland oder gar im Neandertal. Er versenkte seine Schaufeln und Sonden vielmehr in die Abfälle und in den Müll seiner Zeitgenossen. Mit rund 750 Mitarbeitern präparierte Professor Rathje im Laufe der Jahre mehr als 100.000 Kilo weggeworfener Gegenstände aus rund 14 Tonnen Müll, die er aus Deponien, Müllautos oder direkt aus Abfalleimern gesammelt hatte. Das penibel sortierte, gewogene, codierte
und katalogisierte Material bildet eine einzigartige Datenbasis, die wertvolle und überraschende Aufschlüsse über den Alltag, über Konsum- und Wegwerfgewohnheiten der Amerikaner liefert. Es fand Eingang in ein Museum. Mit seinen Forschungen entwickelte Rathje eine völlig neue
Konzeption der Archäologie. Ziel dieser Archäologie war es nicht mehr, vergangene Welten wieder auferstehen zu lassen und den langen Weg der Menschheit aus der Wildnis in die Zivilisation nachzuzeichnen; es ging vielmehr darum, unsere
eigenen zeitgenössischen Verhaltensweisen zu erforschen.