"Wir haben mit unseren Grabungen tatsächlich ins Schwarze getroffen", sagt der Grabungsleiter und Archäologieprofessor Prof. Dr. Hans-Peter Kuhnen zu den aktuellen Ausgrabungen im Umfeld des frühislamischen Kalifenpalastes Khirbat al-Minya am See Genezareth in Israel. Durch Oberflächenuntersuchungen und gezielte Sondierungsschnitte konnten die Mainzer Archäologen jetzt nachweisen, dass der Kalif im frühen 8. Jahrhundert n. Chr. seinen Palast mit der eingebauten Moschee und dem 15 Meter hohen Torturm respektvoll am Rand einer bestehenden Siedlung errichtete und nicht, wie bisher vermutet, "auf der grünen Wiese" am menschenleeren Seeufer.
Bei ihren Grabungen fanden die Mainzer Archäologinnen und Archäologen Steinbauten unterschiedlicher Zeitstellung aus Basalt mit verputzten Wänden, einer Zisterne und farbigen Mosaikböden. Sensationell sind die dort abgebildeten Blüten auf langen geschlungenen Stängeln, wie sie im 5. bis 6. Jahrhundert n. Chr. für sogenannte Nilszenen-Mosaike typisch sind. Sie symbolisierten mit Bildern der Tier- und Pflanzenwelt des Niltals die lebensschöpfende Kraft des großen Stroms, der durch die jährlich wiederkehrende Nilflut die Fruchtbarkeit Ägyptens sicherte. Nilszenen-Mosaike kommen deshalb in spätantiken Kirchen wie etwa im Pilgerheiligtum der nahen Brotvermehrungskirche von Tabgha vor, aber auch in luxuriösen Anwesen spätantiker Städte.
Zusammen mit Keramikfunden des 5. bis 7. Jahrhunderts beweist das neu entdeckte Mosaik, dass die Ortschaft am Seeufer bereits Jahrhunderte vor dem Bau des Kalifenplastes bestand und anfangs von christlicher oder jüdischer Bevölkerung bewohnt war. Später kam eine kleine muslimische Gemeinde hinzu, für die der Kalif im frühen 8. Jahrhundert n. Chr. extra einen Seiteneingang in seine Palastmoschee einbauen ließ. Den Keramikfunden nach blieb der Ort unter den Umayyaden- und Abbassidenkalifen des 7. bis 11. Jahrhunderts n. Chr. weiter besiedelt. In dieser Zeit fanden neue Baumaßnahmen statt, bei denen Teile der Mosaiken anscheinend der Spitzhacke von Bilderstürmern zum Opfer fielen, ältere Mauern abgebrochen und die Steine zur Wiederverwendung abtransportiert wurden. Zuletzt diente die Trümmerstätte als Gräberfeld, in dem nach typisch islamischer Sitte in Seitenlage mit Blick nach Mekka bestattet wurde.
In der Nachbarschaft legte das Mainzer Team einen gemauerten und mit Lehm ausgekleideten Siedeofen zur Verarbeitung von Zuckerrohr frei. Dieses wurde ab dem frühen Mittelalter zu einem Exportschlager der Landwirtschaft des Heiligen Landes, der die Landbesitzer reich machte, ökologisch aber aufgrund des hohen Holz- und Wasserverbrauchs durch Bodenerosion zu einer Umweltkatastrophe führte, die das Gebiet um den See Genezareth noch bis in das 20. Jahrhundert zu spüren bekam. Welche gigantischen Ausmaße der Anbau von Zuckerrohr im Mittelalter einnahm, zeigt die Tatsache, dass sowohl die Ausgrabungen im Kalifenpalast 1936 bis 1939 und 2016 als auch die Mainzer geomagnetischen Erkundungen 2019 Hinweise auf mehrere Dutzend solcher Öfen erbrachten, die zwischen dem 12. und 13./14. Jahrhundert in Betrieb waren. "Unsere neuen Grabungen zeigen, dass der Kalif Walid seinen Palast am Ufer des Sees Genezareth in wohl bestelltem Land an längst besiedelter Stätte errichtete, wo später mit dem Anbau von Zuckerrohr viel Geld verdient, gleichzeitig aber das Ökosystem nachhaltig geschädigt wurde", so Kuhnen. "Mit diesen Forschungen geben wir der Siedlung vor der Schwelle des Kalifenpalastes einen Platz auf der Bühne der Siedlungsgeschichte des Heiligen Landes, das über die Jahrhunderte hinweg einen Wechsel von Innovation und Niedergang, aber nie wirkliche Brüche erlebte."
Dass die Mainzer Archäologen mit ihren Sondierungen genau diesen geschichtlichen Hotspot trafen, verdanken sie den geomagnetischen Oberflächenerkundungen, die sie 2019 in einem Pilotprojekt vor Ort unternommen haben. Dabei erfassen und kartieren Magnetsonden feinste Veränderungen des Erdmagnetfeldes, die durch Bodeneingriffe beispielsweise bei Baumaßnahmen entstehen. So lässt sich zum Beispiel der Verlauf von Mauern, Bodenpflastern oder der Standort von Feuerstellen oder Öfen unter der Erde mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit voraussagen, ohne auch nur den Spaten anzusetzen. Wie genau die Voraussagen sind und wie die im Magnetogramm festgestellten Strukturen datieren, müssen die Archäologen durch gezielte Sondierungsgrabungen verifizieren – wie sie auch das Mainzer Institut für Altertumswissenschaften jetzt in Khirbat al-Minya unternommen hat.
Drei lange Corona-Jahre hat Kuhnen mit seinem Team auf die Anschlussexpedition zur Klärung dieser Fragen warten müssen. Mit den hervorragenden Ergebnissen wurden sie unter der sengenden Augustsonne dafür belohnt. "Den vorausgegangenen geomagnetischen Prospektionen verdanken wir außerordentlich präzise Voraussagen dessen, was wir unter der Erdoberfläche antreffen würden. So haben unsere Grabungsschnitte genau das erbracht, was wir gesucht haben. Die Verbindung beider Untersuchungsmethoden spart Kräfte, schont das archäologische Erbe und ist damit die Zukunft unserer Wissenschaft", kommentiert Hans-Peter Kuhnen die aktuellen Grabungen am See Genezareth, die im nächsten Jahr fortgesetzt werden sollen.
Das Forschungsprojekt war als Lehrgrabung konzipiert. Es erfolgte mit Unterstützung der Israel Antiquities Authority und wurde von der Thyssen-Stiftung, der Axel-Springer Stiftung, der Santander-Stiftung und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst gefördert. Quartier erhielten die Ausgräber im Pilgerhaus Tabgha des Deutschen Vereins vom Heiligen Lande, dem das Grabungsgelände am Nordwestufer des Sees Genezareth seit 1895 gehört.