„In welchem Maß es bei den alten Griechen schon so etwas wie ‚Gewerbegebiete' gab, ist eine Frage, die in Fachkreisen bis heute diskutiert wird", sagt der Bonner Archäologe Dr. Gabriel Zuchtriegel, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter zusammen mit Dr. Jon Albers am Institut für Klassische Archäologie der Universität Bonn das Selinunt-Projekt koordiniert. „Die Konzentration von bestimmten ‚Industrien' und Handwerkern in speziellen Vierteln setzt nicht nur vorausschauende Planung voraus, sie hängt auch mit einer bestimmten Vorstellung davon zusammen, wie man eine Stadt am besten organisiert – in praktischer, aber auch in sozialer und politischer Hinsicht. Etwa: Wer darf oder soll wo wohnen und arbeiten?" Die Ausgrabungen der Universität Bonn tragen jetzt dazu bei, solche Fragen neu zu beantworten.
Es waren vor allem die Töpfereien, die in Selinunt in einem bestimmten Stadtgebiet konzentriert wurden, nämlich am Rand der Siedlung, direkt im Schatten der Stadtmauer. „Qualm, Gestank und Lärm belästigten auf diese Weise nicht so sehr die anderen Bewohner", erklärt Dr. Zuchtriegel. „Gleichzeitig konnten Öfen und Lager von mehreren Handwerkern gemeinsam benutzt werden." Die Grabungen zeigen, dass die Töpfer sich zu Kooperativen zusammenschlossen, die riesige Öfen von bis zu 7 Metern Durchmesser gemeinsam benutzten. Das Handwerkerviertel von Selinunt zog sich wahrscheinlich über mehr als 600 Meter entlang der Stadtmauern und gehörte damit zu den größten, die bislang bekannt sind.
Die Ausgrabung liegt in der Hand von Dozenten und Studierenden aus Bonn und Rom – und sind beschwerlich. Denn die Grabungszeit liegt im August und September, wenn die Hitze am größten ist; dafür regnet es aber auch nur sehr wenig. „Die Arbeit stellt für alle eine Herausforderung dar", betont Grabungsleiter Bentz. „Das ist kein Camping-Urlaub." Dafür sei es aber für die Studierenden eine große Chance, sich archäologische Techniken „learning by doing" anzueignen.
Überraschend war für die Archäologen, dass sie unter den Töpferöfen des 5. Jahrhunderts v. Chr. noch ältere Werkstattreste fanden. Diese Befunde, so die Ausgräber, sind zwar noch nicht ganz freigelegt. Aber es deutet sich an, dass schon in der frühen Phase der Stadt, im 6. Jh. v. Chr., Töpferwerkstätten an derselben Stelle existierten. Das heißt, dass vermutlich schon mit der Anlage der Stadt, die wie bei vielen Koloniegründungen auf dem „Reißbrett" geplant wurde, Handwerker bewusst am Rand angesiedelt wurden.
Die Funde aus dem Handwerkerviertel sind keine Schätze, aber wertvoll für die Rekonstruktion der Vergangenheit sind sie trotzdem. In der Frühphase deuten breit gefächerte Funde von Tongefäßen, Ziegeln und Bronze, darunter auch Importe aus Athen und Sparta, darauf hin, dass Wohn- und Arbeitsbereiche zusammen lagen. Im Lauf des 5. Jahrhunderts werden beide Bereiche dann immer mehr getrennt.
„Wir hoffen, das in Zukunft noch besser zu verstehen", sagt Prof. Bentz. Bis jetzt, so der Archäologe, wisse man noch wenig über die sozialen Verhältnisse, die bei einer Koloniegründung herrschten. Sicher ist nur, dass es oft Hunger und Not waren, die die Siedler bewegten, auszuwandern und eine neue Stadt zu gründen. Warum und unter welchen Bedingungen die einen von ihnen Töpfer wurden, die anderen Bauern, wieder andere sogar reiche Großgrundbesitzer, die sich auch die Teilnahme an den olympischen Spielen leisten konnten – zu diesen Fragen können die Ausgrabungen einen Beitrag leisten.