»Wenn man heute lebende aschkenasische Juden aus den Vereinigten Staaten und Israel miteinander vergleicht, sind sie einander genetisch sehr ähnlich – fast so, als würden sie derselben Population angehören, unabhängig davon, wo sie leben«, sagt der Genetiker Shai Carmi von der Hebrew University of Jerusalem. Doch im Gegensatz zu ihrer heutigen genetischen Uniformität, verfügten vor 600 Jahren in Erfurt lebende aschkenasische Juden über eine größere genetische Vielfalt.
Bei der Untersuchung alter DNA von 33 aschkenasischen Juden aus dem mittelalterlichen Erfurt entdeckte das Forschungsteam, dass diese Gemeinde einerseits aus Personen bestand, deren Herkunft sich im Nahen Osten verorten lässt, während bei anderen eine enge Verwandtschaft zu europäischen Populationen, möglicherweise auch Migranten aus Osteuropa, nachgewiesen werden konnte. Den Ergebnissen zufolge könnte es im mittelalterlichen Erfurt wenigstens zwei genetisch unterschiedliche Gruppen gegeben haben. Diese genetische Vielfalt findet man bei heutigen aschkenasischen Juden nicht.
»Unser Ziel war es, noch bestehende Wissenslücken zur frühen Geschichte des aschkenasischen Judentums mithilfe von alter DNA zu schließen«, sagt Carmi. Die Untersuchung von alter DNA lässt Rückschlüsse auf die historische Demografie zu; doch alte DNA-Daten von jüdischen Gruppen zu untersuchen, unterliegt strengen Regelungen, da das jüdische Gesetz die Störung der Totenruhe in den meisten Fällen untersagt. Mit Zustimmung der örtlichen jüdischen Gemeinde barg das Forschungsteam abgetrennte Zähnen von menschlichen Überresten, die im Rahmen einer Rettungsgrabung in Erfurt auf einem ehemaligen jüdischen Friedhof aus dem 14. Jahrhundert gefunden wurden.
Kleine Populationsgröße
Die Untersuchungen ergaben, dass das Gründerereignis, demzufolge alle heute lebenden aschkenasischen Juden Nachkommen einer kleinen Population sind, vor dem 14. Jahrhundert stattgefunden haben muss. Beim Durchforsten der mitochondrialen DNA, also des Erbguts, das wir von unseren Müttern erben, entdeckten die Forschenden beispielsweise, dass ein Drittel der untersuchten Erfurter Personen eine bestimmte Erbgutsequenz aufweist. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die frühe aschkenasische jüdische Bevölkerung so klein war, dass ein Drittel der Erfurter Individuen über ihre mütterliche Linie von einer einzigen Frau abstammte. Wenigstens acht der Erfurter Individuen trugen außerdem krankheitsverursachende genetische Mutationen in ihrem Erbgut, die auch für heute lebende aschkenasische Juden typisch sind, in anderen Populationen jedoch selten vorkommen – ein Relikt des aschkenasischen jüdischen Gründerereignisses.
»Die Juden waren in Europa eine religiöse Minderheit, die gesellschaftlich ausgegrenzt wurde und regelmäßig Verfolgungen ausgesetzt war«, sagt der Genetiker David Reich von der Harvard University. Obwohl die jüdische Gemeinde in Erfurt im Jahre 1349 durch antisemitische Gewalt praktisch ausgelöscht wurde, kehrten die Juden fünf Jahre später zurück und entwickelten sich zu einer der größten Gemeinden in Deutschland. »Unsere Arbeit gibt uns einen direkten Einblick in die Struktur dieser Gemeinde«, sagt Reich.
Dem Team zufolge trägt die aktuelle Studie dazu bei, eine ethische Grundlage für die Erforschung alter DNA-Daten von jüdischen Gruppen zu schaffen. Viele Fragen bleiben unbeantwortet, beispielsweise wie sich mittelalterliche aschkenasische jüdische Gemeinschaften genetisch voneinander unterscheiden, wie die frühen aschkenasischen Juden mit den sephardischen Juden und wie moderne Juden mit denen aus dem alten Judäa verwandt sind. »Diese Arbeit dient auch als Beispiel dafür, wie die Analyse sowohl von moderner als auch alter DNA im Rahmen einer einzigen Studie Licht auf die Vergangenheit werfen kann«, sagt Reich. »Studien wie diese sind vielversprechend, nicht nur für unser Verständnis der jüdischen Geschichte, sondern auch der Geschichte anderer Bevölkerungsgruppen.«
Publikation
Genome-wide data from medieval German Jews show that the Ashkenazi founder event pre-dated the 14th century
CELL. 30.11.2022
DOI: 10.1016/j.cell.2022.11.002