Dieser Ort war in der mykenischen Palastzeit (ca. 1400-1200 v. Chr.) eines der wichtigsten politischen Zentren im Ostmittelmeerraum. Die Ausgrabungen haben deutlich gemacht, dass die Besiedlung des untersuchten Bereichs der westlichen Unterstadt kurz nach 1300 v. Chr. aufgegeben und nach langer Unterbrechung erst ab ca. 1000 v. Chr. in der frühen Eisenzeit wiederaufgenommen wurde.
In der Ausgrabung wurde ein Teil eines im späten 14. Jh. v. Chr. errichteten großen Gebäudes mit massiven und sorgfältig gebauten Mauern freigelegt. In Abfallschichten, die sich über dem Fußboden in der Freifläche außerhalb des Gebäudes akkumuliert haben, fand sich zusammen mit vielen Scherben mykenischer Gefäße das ca. 3,7 cm hohe Fragment einer aus Ton gefertigten Tafel.
Das Objekt hat als Schriftträger gedient, da vier in den Ton eingetiefte parallele Rillen zur Abgrenzung von Zeilen und der Rest eines unleserlichen Schriftzeichens zu erkennen sind, alles Merkmale, die für Tontafeln typisch sind, auf denen mit der mykenischen Linear B-Schrift geschrieben wurde. Das Stück stammt wohl vom rechten Rand einer hoch-rechteckigen, seitenförmigen Tafel, der bei der rechtsläufigen Linear B-Schrift oft unbeschrieben blieb. Wie alle derart beschrifteten Tontafeln war auch diese ursprünglich ungebrannt, weshalb ihre Härtung auf ein Schadensfeuer zurückgehen muss. Da das Gebäude, in dessen Freifläche sich das Tafelfragment fand, keine Spuren von Brandeinwirkung zeigt, dürfte die Tafel in einem anderen Bauwerk aufbewahrt worden sein.
In dem gleichen Areal der westlichen Unterstadt war bereits Anfang der 1970er Jahre ein Bruchstück einer Linear B-Tafel als Streufund in einem viel späteren Kontext zum Vorschein gekommen. Die Bedeutung des Neufundes besteht darin, dass die zeitliche Stellung fixiert werden kann und es sich um den frühesten Nachweis einer Linear B-Tafel in Tiryns handelt. Während die bisher ältesten derartigen Tafelfunde aus Tiryns aus den letzten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts v. Chr. stammten, datiert das neue Tafelfragment wahrscheinlich ins späte 14. Jahrhundert v. Chr., spätestens aber in die Zeit kurz nach 1300 v. Chr. Es gehört damit dem gleichen frühesten bisher bekannten Horizont der Nutzung dieser Schrift in der Argolis an, der bisher allein von den vor Kurzem im sog. Petsas House in Mykene gefundenen Fragmenten bezeugt wurde.
Der Neufund aus Tiryns zeigt, dass es in der Unterstadt Gebäude gegeben hat, die in die Kontrolle der in der Akropolis residierenden Verwaltung einbezogen waren. Dies gibt Anlass zu der Hoffnung, dass sich durch die geplante Fortsetzung der Ausgrabung zusätzliche Hinweise auf frühe Schriftverwendung in der mykenischen Argolis einstellen werden.