Die ersten altsteinzeitlichen Funde an der Küste bei Happisburgh in Norfolk kamen im Jahr 2000 ans Licht. Seit 2005 beschäftigt sich das Forschungsprojekt »Ancient Human Occupation of Britain« (AHOB) mit diesem Fundort. Im Mai 2013 spülte dann die Flut eine Erdschicht aus dem frühen Pleistozän frei, die merkwürdig geformte Vertiefungen aufwies. Um diese genauer untersuchen zu können, mussten die Wissenschaftler schnell handeln, denn die Gezeiten drohten die alte Oberfläche bald vollständig abzutragen.
»Zuerst waren wir nicht sicher, was wir da sehen,« sagte Dr. Nick Ashton vom British Museum, »aber als wir den verbleibenden Sand entfernten und das in den Vertiefungen stehende Wasser mit Schwämmen entnahmen, wurde klar, dass es sich um Spuren, möglicherweise um menschliche Fußabdrücke handelte, und dass wir die Oberfläche so schnell wie möglich dokumentieren mussten, bevor das Meer sie wegspülte.« Zwei Wochen lang konnten die Wissenschaftler die Oberfläche der etwa 12 Quadratmeter großen Fundstelle fotogrammetrisch vermessen, bevor sie den Gezeiten zum Opfer fiel. Die Forscher erstellten aus den Fotos mittels der »Structure from Motion« Methode ein dreidimensionales Abbild der Oberfläche und konnten dieses für genauere Messungen verwenden. Wie sich zeigte, handelte es sich tatsächlich um Fußabdrücke früher Menschen.
Aus den Abmessungen der einzelnen Spuren schließen die Forscher, dass wahrscheinlich eine Gruppe von fünf adulten und juvenilen Individuen beiderlei Geschlechts einst am Ufer eines pleistozänen Flusses entlang wanderte. Bei einigen der Spuren konnten Ferse, Fußgewölbe und sogar Zehen identifiziert werden. Die größten Spuren entsprechen der heutigen Schuhgröße 8.
Dr. Isabelle De Groote von der John Moores University Liverpool hat die Abdrücke im Detail untersucht. »In einigen Fällen konnten wir die Länge und Breite der Fußabdrücke exakt messen und so die Körpergröße der Individuen abschätzen, die sie hinterlassen haben. In den meisten Populationen der Gegenwart und der Vergangenheit beträgt die Länge des Fußes etwa 15% der Körpergröße. Wir können daher schätzen, dass die Frühmenschen, von denen die Spuren in Happisburgh stammen, zwischen 90 cm und über 1,70 m groß waren. Diese Spannbreite deutet darauf hin, dass die Gruppe aus Erwachsenen und Kindern bestand, wobei das größte Individuum möglicherweise männlich war.« Die Ausrichtung der Spuren deutet darauf hin, dass die Gruppe in südlicher Richtung unterwegs war.
In den Sedimentschichten um Happisburgh fanden sich im Verlauf der letzten zehn Jahre eine ganze Reihe von Fundstellen mit Steinwerkzeugen und fossilen Knochen, die über 800.000 Jahre alt sind. Die jüngste Entdeckung stammt aus den gleichen Schichten. »Obwohl wir wussten, dass die Sedimente selbst alt sind, mussten wir sicher sein, dass die Vertiefungen darin ebenfalls aus dieser Zeit stammen und nicht später entstanden sind,« sagte Dr. Simon Lewis, Geoarchäologe an der Queen Mary University London. »Es gibt jedoch keine bekannten Erosionsprozesse, die derartige Formen erzeugen. Außerdem sind die Sedimente zu kompakt als dass die Vertiefungen erst kürzlich entstanden sein könnten.«
Die Datierung der Fundstelle basiert auf ihrer geologischen Position unterhalb der eiszeitlichen Ablagerungen, aus denen die Klippen bestehen, und den darin gefundenen Überresten inzwischen ausgestorbener Tierarten. Unter diesen befinden sich außer einer Mammutart auch ausgestorbene Pferdearten und eine frühe Form der Wühlmaus. Simon Parfitt vom Natural History Museum und University College London, der die Säugetierfossilien von Happisburgh untersucht hat, schließt aus der Vergesellschaftung dieser Arten auf ein Alter von über 800.000 Jahren.
Pflanzenreste und Pollen sowie Käfer und Muscheln aus diesen Schichten erlauben eine detaillierte Rekonstruktion der damaligen Landschaft. Während des Pleistozäns war Großbritannien über eine Landbrücke mit Kontinentaleuropa verbunden. Der Fundort lag zu dieser Zeit im Mündungsgebiet eines Flusses, mehrere Kilometer von der Küste entfernt. Es gab schlammige Süßwasserbecken und Salzmarschen. Hier fanden die Frühmenschen ein reichhaltiges Nahrungsangebot aus essbaren Wurzeln, Seegras und Schalentieren. Und natürlich konnten sie sich vom Fleisch der zahlreichen Tiere ernähren: In der von dichtem Koniferenwald umgebenen Ebene grasten Hirsch, Bison, Mammut, Flußpferd und Nashorn.
Welche Frühmenschenart ihre Spuren bei Happisburgh hinterlassen hat, läßt sich mangels Fossilienfunden nur anhand der Maße der Fußabdrücke erschließen. »Sie könnten mit den zeitgleichen Menschen der Art Homo antecessor verwandt sein, von denen Fossilien im spanischen Atapuerca gefunden wurden,« sagt Prof. Chris Stringer vom Natural History Museum. »Diese Leute waren ähnlich groß wie wir und liefen auf zwei Beinen. In Europa starben sie um 600.000 vor heute aus und wurden eventuell von Homo heidelbergensis abgelöst.«
Fußabdrücke aus der Zeit der Frühmenschen sind bisher extrem selten entdeckt worden. Die Spuren von Happisburgh zählen zu den bisher ältesten Funden dieser Art - nur die Spuren von Laetoli in Tansania und Ileret und Koobi Fora in Kenia sind mit 3,5 Mio Jahren bzw. 1,5 Mio. Jahren noch älter. »Diese Fußabdrücke stellen eine sehr greifbare Verbindung zu unseren Vorfahren und der fernen Vergangenheit dar«, stellt Nick Ashton fest.
Die am Projekt beteiligten Wissenschaftler haben ihre bisherigen Ergebnisse jüngst in einem Artikel im Wissenschaftsmagazin PLOS ONE veröffentlicht. Die altpaläolithischen Funde von Happisburgh werden außerdem in der heute eröffneten Ausstellung mit dem Titel »Britain: One Million Years of the Human Story« im Natural History Museum in London präsentiert, wo sie noch bis Ende September zu sehen sind.
Die Arbeit in Happisburgh geht derweil weiter. Die Erosion der eiszeitlichen Klippen gibt ständig neue Fundstellen frei, die aber oft kurz danach schon wieder von der Kraft der Gezeiten zerstört werden. Die Forscher sind guter Hoffnung, dass in Zukunft noch weitere Fußabdrücke ans Licht kommen werden.
Publikation
Hominin Footprints from Early Pleistocene Deposits at Happisburgh, UK
Nick Ashton et al., PLOS ONE
veröffentlich am 07.02.2014
DOI: 10.1371/journal.pone.0088329