Am vierten Nilkatarakt im Nordsudan wird derzeit ein monumentaler Staudamm gebaut, der rund 170 km des Niltals für immer fluten wird. Das Archäologenteam der Humboldt University Nubian Expedition arbeitet bereits seit dem Jahr 2004 fieberhaft an der Erfassung der archäologischen Stätten in der Region. Bei der Ausgrabung der Kirche auf der Nilinsel Sur entdeckten die Forscher nun mehrere hundert Fragmente von Schriftstücken in Griechisch und Altnubisch auf Pergament und Leder. Besonders wertvoll und selten sind auch zahlreiche Reste lederner Bucheinbände mit ornamentalen Prägungen. Eine kleine reliefierte Schieferplatte trägt eine Darstellung von Jesus und den Symbolen der vier Evangelisten; sie schmückte vermutlich einen solchen Bucheinband.
Eine erste Bearbeitung des ungewöhnlichen Textes ergab, dass er das Problem des Ehebruchs diskutiert. Der Autor argumentiert, dass auch ältere und mächtige Männer dem Schuldspruch wegen dieser Sünde nicht entgehen sollten. In diesem Zusammenhang führt er aus, dass bereits König David wegen dieses Vergehens zu Recht von den jungen Propheten Daniel und Nathan kritisiert wurde. Der Verfasser zitiert nicht nur aus dem Alten Testament, sondern bedient sich auch Anleihen aus der griechischen Philosophie.
Die Textfunde stammen aus dem Sakristeiraum der Kirche, der auch weitere bemerkenswerte Objekte enthielt. Neben Alltagsgegenständen, wie einem massiven Schlüssel aus Kupfer, Bronze und Eisen, Knöpfen aus Elfenbein sowie zahlreichen Perlen, kamen auch Teile der sakralen Ausstattung zu Tage, darunter ein Glöckchen und ein kleiner Löffel aus Eisen. In einem anderen Gebäudeteil wurde sogar eine Toilette aus Keramik entdeckt.
Mit einer Größe von ca. 17 x 15 m ist die Kirche von Sur die größte, die bisher am Vierten Katarakt entdeckt wurde. Sie war aus ungebrannten Lehmziegeln errichtet und besitzt den regional üblichen kreuzförmigen Grundriss mit einer Apsis im Osten. Die Innenräume waren mit Wandmalereien geschmückt, von denen zahlreiche Fragmente erhalten sind. Holzpanele mit geschnitzten Ornamenten gehörten ebenfalls zur Dekoration. Der Beleuchtung dienten kleine Öllämpchen aus Keramik, die in großer Zahl gefunden wurden. Ausgelaufenes Lampenöl, vermengt mit Sand, war an verschiedenen Stellen auf dem Fußboden erhalten.
Nubien, die Region zwischen Assuan und Khartoum, war vom 6. bis zum 15. Jahrhundert christlich. Nach der arabischen Eroberung Ägyptens im Jahr 641 n. Chr. waren Kontakte mit der Mittelmeerwelt und der koptischen Kirche Ägyptens nur noch eingeschränkt möglich, und das nubische Christentum nahm seinen eigenen Entwicklungsweg.
Die nubischen Kirchen illustrieren eindrucksvoll das religiöse Leben in diesem abgelegenen Teil des Niltals. Während jedoch zahlreiche Kirchenbauten bis in die Region des heutigen Khartoum bekannt sind, blieben Textfunde außerordentlich selten. Die neu entdeckten Handschriften sind die ersten seit vielen Jahren und versprechen reiche Informationen über den religiösen Alltag einer ländlichen Gemeinde im Mittleren Niltal vor gut 1000 Jahren.