Die symbolische Darstellung des Kosmos im hethitischen Felsheiligtum Yazılıkaya
Als Ramses II. im 13. Jahrhundert v. Chr. über sechzig Jahre lang Ägypten regierte, stand seinem Reich ein starker politischer Gegner in Kleinasien gegenüber: die Hethiter. Doch um 1190 v. Chr. verschwand diese anatolische Macht plötzlich von der Bildfläche. Die Führungsschicht hatte die Hauptstadt Hattuša nach internen Auseinandersetzungen und Angriffen von außen verlassen, und so brach die Regierung des Landes zusammen. Nach kurzer Zeit war die hethitische Kultur für rund dreitausend Jahre in Vergessenheit geraten. Erst 1834 streifte der französische Archäologe Charles Texier durch die Region, in der die ehemalige Hauptstadt lag – und so sah und zeichnete er als erster europäischer Besucher die noch sichtbaren riesigen Fundamente der dortigen Tempel. Heute wissen wir, dass die von einer Befestigungsmauer umgebene Fläche der ehemaligen Hauptstadt Hattuša zweihundert Hektar umfasst und damit hundertmal so groß ist wie die Burg von Troja VI.
Texier ließ sich wohl kaum zweimal bitten, als die einheimischen Bauern anboten, ihm in einem natürlichen Kalksteinfelsen einige hundert Meter weiter noch mehr zu zeigen.
Dort befindet sich ein Felsheiligtum aus hethitischer Zeit, in dem über 90 Reliefs von Gottheiten, Tieren und Schimären in den natürlichen Felsen gemeißelt sind. Es gilt als eines der wichtigsten Heiligtümer der anatolischen Bronzezeit und gewährt einen Einblick in das hethitische Glaubenssystem – wobei das System, das sich hinter den Figuren verbirgt, nicht vollständig entschlüsselt ist. Seit fast zweihundert Jahren rätseln Archäologen darüber, was die Reliefs bedeuten könnten. »Viele Forscher haben sich intensiv, aber vergeblich mit der Interpretation des Ortes befasst. Bis heute bewahrt er einen Großteil seines Rätsels«, schrieb ein mit der Ausgrabung der Anlage beschäftigter Archäologe vor nicht allzu langer Zeit.
Yazılıkaya als Lunisolarkalender
Zur Sommersonnenwende 2019 veröffentlichten Eberhard Zangger und Rita Gautschy eine wissenschaftliche Untersuchung und eine Zusammenfassung bei archaeologie-online.de, wonach die Mehrzahl der Gottheiten in Yazılıkaya so angeordnet ist, dass die Anlage als ewiger Lunisolarkalender verwendet werden kann. Die Reliefs bilden Gruppen mit 12, 30, 5 und 19 Figuren. Die Zahl 12 entspricht den Mondmonaten pro Sonnenjahr; 30 stellt die maximale Anzahl von Tagen pro Mondmonat dar; 5 könnte symbolisch die Anzahl der fehlenden Tage in einem schematischen Jahr widerspiegeln (12 × 30 + 5 = 365), und 19 entspricht der Anzahl Jahre in einem Sonnenzyklus, die für die Kalibrierung von Sonnen- und Mondkalendern nützlich ist.
Mithilfe dieses Systems hätten die Priester bestimmen können, wann ein zusätzlicher Mondmonat geschaltet werden musste, um den Kalender mit den Jahreszeiten in Einklang zu bringen. Über einen Zeitraum von 19 Jahren hätten sieben Schaltmonate eingefügt werden müssen, was dem späteren metonischen Zyklus entspräche. Mit einem solchen Kalender hätten die hethitischen Priester sicherstellen können, dass die 165 Tage des Jahres, an denen religiöse Feste stattfanden, jeweils in die richtige Jahreszeit fielen. Bei Ausgrabungen gefundene Dokumente belegen, wie wichtig es war, dass die Feste zur richtigen Jahreszeit stattfanden.
Diese Interpretation des Felsheiligtums misst dem Himmel einen größeren Stellenwert zu, als dies die bisherige Erforschung der hethitischen Religion tat. Sie schlägt auch erstmals eine technische Funktion für das Heiligtum vor – eine Technologie, die heute noch funktionieren würde. Dessen ungeachtet blieben viele Fragen offen. Die höchsten Götter auf der zentralen Tafel des offensichtlich hierarchischen Pantheons konnten keiner Kalenderfunktion zugeordnet werden. Auch blieb die symbolische Bedeutung des Heiligtums als Ganzes unklar, ebenso wie Kammer B weiterhin rätselhaft war.
Diese zweite Kammer ist ein schmaler Korridor zwischen steil aufragenden Kalksteinflächen. An einer der Wände befindet sich ein imposantes 3,4 Meter hohes Relief eines Schwertgotts. Gleich daneben ist der hethitische Großkönig Tudhalija IV. abgebildet, wie er von seiner Schutzgottheit Šarruma geführt wird. Gegenüber ist eine Gruppe von zwölf identischen männlichen Gottheiten, jede mit einem Säbel auf der Schulter.
Die symbolische Bedeutung des Heiligtums als Ganzes
In der Rückschau kommt es uns vor, als hätten wir 2019 eine Funktion des Heiligtums erkannt, die mit einer Kirchturmuhr verglichen werden könnte. Sie gibt die Zeit an, erklärt aber nicht den eigentlichen Zweck des Gebäudes.
Bereits vor mehr als zwanzig Jahren hatte E. C. Krupp versucht, die symbolische Bedeutung des Schreins als Ganzes zu entschlüsseln, was zu verschiedenen Veröffentlichungen führte. E. C. Krupp nutzte seine Erfahrungen mit Felsmalereien, in denen Künstler früherer Kulturen der Landschaft eine symbolische Bedeutung verliehen hatten, und kombinierte dieses Wissen mit den Denkmodellen des Religionshistorikers Mircea Eliade. Dabei stellte der Astronom fest, dass Yazılıkayas natürliche Merkmale kosmische Prinzipien widerspiegeln. Deswegen könnte dieses Heiligtum seit jeher eine besondere Bedeutung gehabt haben.
Archäologische Ausgrabungen haben gezeigt, dass das Heiligtum Vorgänger hatte. Die Hethiter scheinen diesen Ort in der Höhe (rund 1300 Meter über dem Meeresspiegel) als natürliche Verknüpfung zwischen Himmel und Erde erkannt zu haben, der die Übertragung göttlicher Kräfte aus dem Himmel begünstigt. In den Kosmologien urbanisierter Gesellschaften werden solche Orte traditionell häufig als das Zentrum der Welt oder sogar das Zentrum des gesamten Kosmos verstanden. Oft liegen die Hauptstädte an diesen Orten, weil sie so dem König ein Vorrecht auf den Zugriff auf himmlische Mächte gewähren.
Das Team, das sich aktuell mit der symbolischen Bedeutung von Yazılıkaya befasste, bestand aus vier Wissenschaftlern: Eberhard Zangger, E. C. Krupp, Rita Gautschy und Serkan Demirel, einem Professor für Alte Geschichte an der Technischen Universität Karadeniz in Trabzon. Letzterer ist auf hethitische Kalender spezialisiert und hat zahlreiche Verweise auf hethitische Dokumente zitiert, die die neue Interpretation stützen. Die Untersuchung führte schließlich zu einer Folgeveröffentlichung über Yazılıkaya (»Teil 2«), die sich zum Ziel gesetzt hat, frühere Forschungen mit der jüngsten Identifizierung der Kalenderfunktion zu verbinden und so die symbolische Bedeutung des gesamten Heiligtums zu entschlüsseln.
Die kosmische Ordnung
Die jetzt gewonnene neue Erkenntnis ist, dass das Felsheiligtum Yazılıkaya den Kosmos symbolisiert – so, wie dies auch von vielen Tempeln aus dieser Zeit in Mesopotamien und Ägypten bekannt ist. In diesem Fall errichtete man jedoch kein Gebäude, sondern übertrug die Elemente des Kosmos auf die natürliche Umgebung. In der Mythologie der Hethiter bezwang zu Beginn der Schöpfung die kosmische Ordnung das Chaos. Dabei entstanden regelmäßige Abläufe wie Tag, Monat und Jahr. In ihnen manifestiert sich die kosmische Ordnung, weshalb sie in Yazılıkaya in Form des Kalenders hervorgehoben sind. Die kosmische Ordnung findet sich jedoch auch in klar strukturierten Einheiten. Da ist die Erde, auf der die Menschen leben, und der Himmel über ihnen. Diese beiden Einheiten hatten wir bereits in der ersten Untersuchung erkannt.
Im Yazılıkaya-Heiligtum werden allerdings insgesamt drei Haupteinheiten des Kosmos unterschieden. Die dritte Ebene ist die Unterwelt, die Region, wo die Sonne die Nachtstunden und den Winter überdauert. Im altägyptischen Glaubenssystem war dies auch die Region, in der die Toten weiter existieren. In Yazılıkaya symbolisiert Kammer B die Unterwelt. Dies ist nichts Neues, denn diese Symbolik von Kammer B ist seit langem bekannt. Schließlich ist die darin dargestellte wichtigste Figur der Unterweltgott Nergal. Ihm gegenüber befindet sich eine Tafel mit zwölf identischen männlichen Gottheiten, die als die zwölf Götter der Unterwelt verstanden werden. Tatsächlich interpretieren Archäologen die Unterweltbezüge von Kammer B als Hinweis darauf, dass dieser Teil des Heiligtums dem Bestattungskult des verstorbenen Königs Tudhaliya IV. gedient haben könnte. Die Ikonographie von Kammer B spiegelt zwar tatsächlich den Tod wider, aber es ist ein vorübergehender Tod: das Versinken der Sonne am Abend, die Zeit, die die Sonne im Winter im Süden verbringt, und das vorübergehende Verschwinden der Plejaden und anderer Sterne im Jahresverlauf. Es ist ein Tod, der letztlich durch die Himmelszyklen immer wieder aufs Neue überwunden wird.
Die Himmelsachse
Unter den vielen Reliefs im Heiligtum gibt es manche, die wenig Beachtung gefunden haben. Dazu gehören beispielsweise die beiden Schimären am schmalen Eingang zu Kammer B (Relief 67 und 68). Sie zeigen jeweils einen menschlichen Körper in Schrittposition, darauf sitzt der Kopf eines Löwen mit aufgerissenem Maul. Die Arme sind hoch ausgestreckt und enden in einer Mischung aus menschlichen Händen und Löwentatzen. Beide Figuren sind geflügelt und tragen einen kurzen Rock mit breitem Gürtel. Kurt Bittel, ein früherer Ausgräber der Anlage, interpretierte sie als Dämonen, die den Eingang vor böswilligen Besuchern schützten. Solche Dämonen sind aus dem altbabylonischen Repertoire von Ištar als »löwenköpfige Götter« bekannt. Sie symbolisieren Liminalität, das heißt das Überschreiten einer Grenze in Raum und Zeit. Ihre Platzierung in Yazılıkaya am Übergang zwischen Kammer A, die Erde und Himmel verkörpert, und Kammer B, die die Unterwelt symbolisiert, passt somit nahtlos zu unserem Interpretationsmodell.
Bleibt noch die Hauptszene in Kammer A mit den wichtigsten Gottheiten des hethitischen Pantheons zu erklären (Reliefs 42–46). Sie symbolisiert einen speziellen Abschnitt des Himmels und damit die höchste Einheit des Kosmos. Diese Wand liegt ganz im Norden und beherrscht von dort aus das gesamte durch die übrigen Figuren symbolisierte Pantheon. Die Anordnung im Norden und im Zentrum einer Prozession himmlischer und kosmischer Gottheiten bezieht sich auf die zirkumpolaren Konstellationen, deren Sterne das ganze Jahr über leuchten und nie unter dem Horizont versinken. Dort, am nördlichen Himmelspol, ist die kosmische Achse verankert, um die sich das ganze Universum zu drehen scheint.
In frühen Kosmologien fixiert diese axis mundi den Kosmos und bestimmt gleichzeitig sein Verhalten. Der hurritische Wettergott Teššub und die anderen höchsten Götter im Zentralrelief sind zwar nicht die Sterne des zirkumpolaren Himmels, aber sie scheinen mit dieser Region verbunden zu sein und regieren vom höchsten Punkt des Himmels aus. Im hethitischen Glaubenssystem hatte die zirkumpolare Region des Nordhimmels offensichtlich einen besonderen Stellenwert, sie bildete eine separate kosmische Ebene am Himmel, die über allem anderen stand. Denn der Meridian bestimmt die Ausrichtung sowohl von Kammer A wie auch Kammer B. Aber nicht nur das: Yerkapı, die oberste architektonische Anlage von Hattuša, ist ebenfalls streng nach der Nord-Süd-Achse ausgerichtet.
Erde, Himmel und Unterwelt
Alles in allem symbolisiert das Yazılıkaya-Heiligtum also den Kosmos in seiner Gesamtheit: Erde, Himmel und Unterwelt. Dieser Kosmos erstreckt sich um ein Zentrum, den Meridian oder die axis mundi, wodurch der paradigmatische Akt der Götter symbolisiert wird, wie sie aus dem Chaos Ordnung schufen und den Raum aufteilten – in diesem Fall in drei kosmische Ebenen mit besonderer Betonung der höchsten Himmelsregion. In Yazılıkaya ist es sogar möglich, von einer kosmischen Region in eine andere zu wechseln: vom Himmel zur Erde und von der Erde zur Unterwelt, so wie es auch aus der sumerischen Kosmologie überliefert ist.
Unsere erste Arbeit endete mit der Bemerkung, dass diese Interpretation einen neuen Ansatz zum Verständnis der hethitischen Religion eröffnen könnte. Zwei Jahre später scheint es, als wären wir einen großen Schritt weiter.
Dieses Projekt wurde durch Luwian Studies ermöglicht.
Video:
Cosmic Symbolism at Hittite Yazilikaya
Seit fast zweihundert Jahren suchen Archäologen nach einer plausiblen Erklärung für das antike Felsheiligtum von Yazılıkaya in der Zentraltürkei. Vor über 3.200 Jahren schnitten Steinmetze kunstvoll mehr als 90 Reliefs von Gottheiten, Tieren und Chimären in den Kalksteinfelsen. Ein internationales Forscherteam präsentiert nun eine Interpretation, die erstmals einen zusammenhängenden Kontext für alle Figuren nahelegt. Demnach symbolisieren die in Stein gemeißelten Reliefs in zwei Felskammern den Kosmos der Hethiter: die Unterwelt, die Erde und den Himmel sowie die wiederkehrenden Zyklen der Jahreszeiten, die Mondphasen und Tag und Nacht. In dem englischsprachigen Video werden die Geschichte und die aktuellen Erkenntnisse zu dem in Stein gemeißelten Heiligtum vorgestellt. Eine etwas ausführlichere Darstellung kann hier nachgelesen werden.
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Wissenschaftliche Veröffentlichung
Zangger, Eberhard, E. C. Krupp, Serkan Demirel und Rita Gautschy (2021): »Celestial Aspects of Hittite Religion, Part 2: Cosmic Symbolism at Yazılıkaya.« Journal of Skyscape Archaeology 7 (1).
https://luwianstudies.academia.edu/EZangger