Die Bestattungen der Neandertaler
Nach der Entdeckung der ersten mehr oder weniger vollständigen Skelette paläolithischer Menschen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Frage, ob diese Individuen absichtlich bestattet wurden, kontrovers diskutiert. Bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts herrschte die Meinung vor, dass in diesen Fällen nicht von einem absichtlich durchgeführten Begräbnis auszugehen sei. Das Begräbnis eines Verstorbenen setzt das Vorhandensein von Empfindungen wie Trauer und einen pietätvollen Umgang und unter Umständen auch den Glauben an eine jenseitige Welt voraus. Diese Eigenschaften wurden den paläolithischen Menschen zu dieser Zeit gänzlich abgesprochen. Der Umgang mit den Verstorbenen wurde als ein reines Entsorgen des Körpers gedeutet, wobei dieser einfach liegen gelassen oder an einem geeigneten Platz deponiert, bzw. in einen Fluss geworfen wurde. Durch besondere Erhaltungsbedingungen und eine rasche, durch natürliche Vorgänge wie Sedimentrutsch oder Steinschlag, verursachte Einbettung sollen nach damaliger Vorstellung einzelne Skelette erhalten geblieben sein. Hinzu kam noch die Vorstellung, dass einzelne Individuen während des Aufenthaltes der Gruppe in einem Felsüberhang oder eine Höhle durch plötzlichen Steinschlag getötet und verschüttet sein sollten.
Durch verbesserte Grabungsmethoden wuchs die Erkenntnis, dass diese Aussagen offenbar auf Vorurteilen beruhten. Die Bestattungen der Neandertaler blieben jedoch weiter umstritten. Durch die immer zahlreicher werdenden Funde von mehr oder wenige vollständigen Skeletten von Neandertalern setzte sich die Vorstellung immer mehr durch, daß auch die Neandertaler und nicht nur die anatomisch modernen Menschen des Paläolithikums ihre Toten bestatteten. Vor allem die Funde von La Chapelle-aux-Saints und von La Ferrassie belegten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Existenz von Neandertaler - Gräbern.
In jüngster Zeit wurde dies jedoch von dem amerikanischen Anthropologen Robert Gargett wiederholt angezweifelt. Gargett bestreitet die Existenz von bewusst angelegten Gräbern bei Neandertalern. Seiner Auffassung nach sind alle Skelettreste der Neandertaler durch günstige Erhaltungsbedingungen konserviert worden. Als Beleg kann angeführt werden, dass auch in der Paläontologie, die sich mit den Überresten ausgestorbener Tierarten befasst, in besonderen Einzelfällen immer wieder vollständige Skelette entdeckt werden. Nach der Vorstellung von Gargett seien sterbende oder bereits tote Individuen von den Mitgliedern der Gruppe zurückgelassen worden, ohne sie zu bestatten. Die Verstorbenen seien dann durch natürliche Vorgänge eingebettet und ihre Skelettreste somit erhalten geblieben. Das Entstehen dieser Auffassungen wird durch die Tatsache erleichtert, dass eine Vielzahl der Gräber zu Beginn des 20. Jahrhunderts geborgen wurden, zu einer Zeit, zu der die Grabungstechnik noch nicht weit entwickelt war und das dokumentieren der Befunde noch sehr rudimentär durchgeführt wurde. Der meist fehlende Nachweis von Grabgruben, eines der Hauptargumente Gargetts gegen eine Bestattung bei Neandertalern, dürfte darauf zurückzuführen sein.
Auch wenn in einigen Fällen selbst mit modernen Grabungsmethoden eindeutige Grabgruben durch spezielle Sedimentverhältnisse oder Störungen nicht nachweisbar sind, zeigt vor allem die gute Erhaltung der Skelette, dass es sich um Gräber gehandelt haben muss. Nicht nur die quantitative Erhaltung, sondern auch die Tatsache, dass die Skelettreste im anatomischen Zusammenhang liegen, deuten klar auf die Anlage einer Grabgrube hin. Es erscheint mehr als unwahrscheinlich, dass in Fundstellen wie La Ferrassie, wo sieben Bestattungen von Neandertalern entdeckt wurden, darunter vier Kinder und Neugeborene und sogar ein Fötus, ihre teilweise fragilen Skelettreste nur durch zufällige natürliche Sedimentation konserviert wurden. Das gleiche trifft auch auf die Fundstelle von Shanidar im Nordirak zu, in der neun Neandertaler entdeckt wurden. Die Existenz von weiteren Kinderskeletten, die zum Teil nur ein geringes Lebensalter von wenigen Monaten oder Jahren erreicht haben, wie die neuen Funde aus Dederiyeh in Syrien, zeigen, dass Kinder wie Erwachsene gleichermaßen behandelt wurden. Immerhin machen die Kinderbestattungen ca. 40% der gesamten Anzahl mittelpaläolithischer Bestattungen, im Gegensatz zu denen des Jungpaläolithikums, mit nur 27%, aus.
Während heute die meisten Wissenschaftler davon ausgehen, dass die Neandertaler zumindest einige ihrer Toten bestatteten, ist es nach wie vor weitgehend ungeklärt welche Rituale dabei abgehalten wurden oder ob von einer Jenseitsvorstellung bei Neandertalern ausgegangen werden kann. Die Ausstattung der Toten scheint jedenfalls recht spärlich gewesen zu sein. Hinzu kommt, dass in den meisten Fällen nicht eindeutig entschieden werden kann, ob die unmittelbar bei den Bestattungen gefundenen Objekte als Beigabe oder nur als zufällig in die Grabverfüllung geratene Objekte anzusprechen sind. Inwieweit auch hier die Grabungsmethoden der damaligen Zeit ihren Tribut forderten, kann nur vermutet werden. Als Beweis für diese Annahme kann die 1979 in einer Blockbergung gehobene Bestattung eines Neandertalers aus der Fundstelle Roche à Pierrot bei Saint Césaire in Südfrankreich gelten. Bei der Freilegung wurden einige aus Muscheln hergestellte Perlen entdeckt, die offenbar als Beigabe mitgegeben wurden. Kleine Objekte dieser Art wären bei frühen Grabungen zum Anfang des 20. Jahrhunderts wahrscheinlich kaum bemerkt worden.
Über Rituale, die während der Bestattung ausgeführt wurden, geben die Bestattungen selbst nur bedingt Auskunft. Die Anlage der Gräber zeigt zudem wenige Gemeinsamkeiten, so variieren die Orientierung, die Lage der Toten im Grab und ihre Ausstattung sehr stark. Die Körper wurden meist in angehockter Beinstellung in Seiten- oder Rückenlage niedergelegt. Dabei wurde meist eine sehr variable Ost-West Achsen Orientierung bevorzugt. Weder gestreckte Totenhaltungen noch eine Orientierung in der Nord-Süd Achse wurden bislang dokumentiert. Eine weitere Gemeinsamkeit ist die Tatsache, dass alle bekannten Bestattungen von Neandertalern ausschließlich in Höhlen oder Abris (Felsschutzdächern) vorkommen. Im Gegensatz zu den späteren Bestattungen des jungpaläolithischen Gravettien ist kein einziger Fall einer Bestattung in einer sogenannten Freilandstation bekannt.
Das Vorkommen von Bestattungen der Neandertaler beschränkt sich im wesentlichen auf zwei Regionen. Zum einen Frankreich und hier vor allem die im Süden gelegene Dordogne (z.B. La Ferrassie, La Chapelle-aux-Saints, Le Moustier und Le Regourdou) und zum anderen der Nahe Osten, hier vor allem Israel (Tabun, Kebara, Amud) und der Nordirak mit der Fundstelle Shanidar. Vereinzelte Gräber finden sich in der Ukraine, auf der Krim (Kiik Kooba) und in Uzbekistan (Teshik Tash). In dem ansonsten an mittelpaläolithischen Funden reichen Gebiet Mitteleuropas sind zwar Neandertalerreste in Form von einzelnen Skelettresten vorhanden, in keinem einzigen Fall konnte jedoch eine sichere Bestattung belegt werden. Als ein möglicher Fall kann das 1856 in der Feldhofer Grotte im Neandertal entdeckte Skelett bezeichnet werden. Durch die Fundumstände liegen keine Informationen zur Lage des Skelettes vor. Die Beschädigungen an den Skelettresten, die durch die Werkzeuge der Steinbrucharbeiter entstanden sind, legen jedoch den Schluß nahe, dass sich das Skelett im anatomischen Verband befunden haben muss und somit als mögliche Bestattung angesehen werden kann.