Kleingeld erzählt Geschichte

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SyrienMittelalterNumismatik

Heute ist kaum zu erkennen, daß die Provinzstadt ar-Raqqa im nordsyrischen Balikh-Tal einstmals die Residenz des durch die Märchen aus 1001 Nacht bekannten Kalifen Harun ar Raschid war und zeitgenössischen abendländischen Metropolen in Nichts nachstand.

Zu Beginn des 9. Jahrhunderts befand sich ar-Raqqa auf dem Höhepunkt islamischen Kulturlebens. Allerdings schon 100 Jahre später verblasste der Reichtum, die Stadt mit ihren Palästen und Prunkbauten verfiel, Handelswege mussten aufgegeben werden. Nach 950 zerbrach das alte islamische Großreich, und für 200 Jahre tritt in ar-Raqqa das ein, was man gemeinhin eine "archäologische Siedlungslücke" nennt. Jetzt hat der Jenaer Orientalist Dr. Stefan Heidemann an der Universität Jena die Kultur- und Wirtschaftsgeschichte der dieser Stadt zwischen 950 und 1150 nachgezeichnet.

Die wichtigste Quelle für seine Forschung spielte dabei das Kleingeld. "Golddinare interessieren mich nicht", erzählt Heidemann. "Nur Kleingeld, als das Zahlungsmittel des Alltags, belegt ganz unmittelbar das wirtschaftliche Niveau des städtischen Lebens." Als stumme Zeitzeugen verraten die unscheinbaren, kleinwertigen Münzen durch ihre Verteilung in Syrien eine ganze Menge über die damaligen Handels- und Fiskalstrukturen. So wurden zum Beispiel in der Zeit der "Renaissance der Städte" Kleingeld aus anderen Regionen, zum Teil aus dem christlichen Byzanz, in das islamische Nordsyrien importiert. Durch die akribische Auswertung von über 20.000 syrischen Fundmünzen und der Abgleichung seiner Erkenntnisse mit der zeitgenössischen Geschichtsschreibung aus Aleppo, Damaskus und Baghdad hat Heidemann eine bisherige Forschungslücke geschlossen und die Gründe für Niedergang und erneute Blüte der alten Kulturmetropole ar-Raqqa in seiner Habilitationsschrift rekonstruiert. Eine detektivische "Grabung" ohne Schaufel, denn vor Ort finden sich für das Heidemann besonders interessierende 10./11. Jahrhundert kaum Zeugnisse.

Die Geschichte ar-Raqqas ist beispielhaft für den Wendepunkt in der islamischen Kultur zwischen 950 und 1150. Interne Machtkämpfe und eine Einwanderungswelle arabischer Beduinenstämme von Süden her sorgten für ein allmähliches Verschwinden der städtischen Kulturzentren.

Die Handelswege wurden immer unsicherer, Plünderungen und Versklavung der alteingesessenen Bevölkerung prägten das Balikh-Tal zu jener Zeit. Nur für eine kurze Zwischenphase Mitte des 11. Jahrhunderts pflegte der numairidische Fürst Mani' ibn Shabib urbane Traditionen und legte in ar-Raqqa repräsentative Bauwerke an.
Erst die Besetzung des heutigen Nordsyriens durch die Seldschuken im Jahr 1087 und die von ihnen durchgesetzte straffe Staatsorganisation verbunden mit staatlichen Einnahmen aus Zollstellen sorgten für eine neue wirtschaftliche und kulturelle Blüte der Region. Zwischen 1120 und 1160 unter Zangi und seinem Sohn Nur ad-Din ibn Zangi verstanden es die Seldschuken, eine Renaissance der Städte einzuleiten, die sich in der Geldwirtschaft widerspiegelt. Heidemann: "Der Fiskus war nunmehr wieder der Vater aller Dinge."

Mit seiner Arbeit hat Stefan Heidemann für Erhellung in einem dunklen Kapitel islamischer Kultur gesorgt. Jene 200 Jahre zwischen 950 und 1150, zwischen Untergang und Renaissance der morgenländischen Stadtkultur, sind seines Erachtens charakteristisch für den Wandel vom klassischen zu einem Islam, wie wir ihn in weiter entwickelter Form praktisch heute noch kennen. Für ar-Raqqa allerdings war die Blütezeit unter seldschukischer Herrschaft nur von kurzer Dauer: Die Mongolenstürme in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts verwandelten die Stadt in ein ödes Trümmerfeld. Erst nach 1860 siedelten die Osmanen dort wieder tscherkessische und tschetschenische Stämme an.