Der unbekannte Berg
Forscherteam erkundet archäologisch jungfräuliches Bergmassiv in Südjordanien
Der Scheich der Amarin-Beduinen bewies, daß man mitten im südjordanischen Bergland wie ein Fürst auf einem Felsen thronen und dabei zielstrebig verhandeln kann. Seit 1900 hat sich viel verändert. Damals galten die Amarin als berüchtigte Räuber, heute sind sie verläßliche Partner. Dakhilallah Qublan aus Petra hatte die Unterredung vorbereitet. Der Freund des Forscherteams der Naturhistorischen Gesellschaft Nürnberg teilt seit langem die Geheimnisse seines Landes um die antike Stadt mit den europäischen Gästen. Diesmal ging es darum, erinnert sich Dr. Manfred Lindner als Initiator des Unternehmens, einen Bergstock im Norden Petras archäologisch zu untersuchen. Da lohnt es sich, vorher mit dem Oberhaupt der Beduinen zu sprechen, die seit Jahrhunderten hier zuhause sind. Wenn wir seine Leute als Helfer beschäftigten und dazu deren Esel anheuerten, wären wir willkommen, sagt er. Wir waren vorsichtig geworden. Einmal hatten wir es unterlassen, uns dieses Willkommmens zu versichern und Warnungen der Beduinen vom Stamme der Sa'idiyin mißachtet. Daß wir von ihnen für Spione gehalten und bei den Grenztruppen denunziert wurden, war unserer Blauäugigkeit zuzuschreiben. Mit einer nächtlichen Verhaftung, wie es damals der Fall war, mußten wir diesmal nicht rechnen.
Auf dem archäologisch bisher unbekannten, also "jungfräulichen" Massiv des Djebel Suffaha konnten die Altertumforscher aus Nürnberg, Kiel, Wien und Bern eine Besiedlung über 2500 Jahre nachweisen. Die Amarin hatten es verstanden, zuerst türkische Steuereinnehmer, später englische Truppen und schließlich in- und ausländische Archäologen von ihrem Gebiet fernzuhalten. Alois Musil, der geniale Erkunder der jordanischen Landschaft und ihrer Menschen, sah um 1900 nur von weitem den "bewaldeten Hügel", vergaß aber nicht, sich des Namens zu vergewissern. So konnte die Gegend etwa 15 km nördlich des heute vielbesuchten antiken Petra "terra incognita" bleiben, bis sich das Team mit Geländewagen, Esel und auf Schustersrappen auf den Weg machte.
Etwas abseits der großen Karawanenstraße zwischen Syrien und dem Mittelmeer gelegen, bot sich der nach Osten leicht abfallende Kalksteinberg in der Mitte des 1. Jahrtausends v.Chr. zuerst den Edomitern zur Niederlassung an. Aus großen Quadern errichteten sie am Kamm des Berges auf 1290 m Höhe ein Dorf oder Gehöft. Im Winter konnte es hier erbärmlich kalt werden und schneien, aber dafür fing der Platz auch mehr Regen ein als tiefer gelegene Hänge. Eine Ortslage an der flacheren Ostflanke wurde zur Festung. Bis zu 2.40 m lange Steine wurden dort zum Bau von Kasematten und Türmen verwendet. Die für die edomitische Zeit typische Keramik hatten die Forscher schon in anderen Siedlungen und Festungen kennengelernt. Hier waren Scherben von großen Vorratsgefäßen und handlichen Kochtöpfen auf dem ganzen Berg verstreut. Zusammen mit Resten von Steinhütten, Terrassen, Einzäunungen, vielleicht auch Gräbern, sowie eigenartigen Höhlen-Zisternen erinnerte die Keramik an fleißige, Ackerbau und Weidewirtschaft betreibende Bewohner. Unter den neubabylonischen Nachfolgern der Assyrer verschwinden die Edomiter allmählich von der archäologischen Bühne. Entweder wurden sie wieder, was sie vorher waren, nämlich keramiklose Nomaden oder sie gingen in den Nabatäern auf, die sich um das 3. Jh. v.Chr. in der Gegend niederließen und ihre eigenen typischen Gefäße herstellten.
Tatsächlich entstehen in nabatäisch-römischer Zeit zwischen dem 1. und 7. Jh. n.Chr. neue Siedlungen am Djebel Suffaha. Die Ankömmlinge müssen noch die für den Ackerbau notwendigen Stein-Terrassen ihrer Vorgänger vorgefunden haben. Man baute jetzt aber großzügiger und effizienter. In dem von Prof. Hübner (Univ. Kiel) entdeckten Kutle H überraschten vielfach gestaffelte noch bis zu 2 m hohe Terrassen und aufwendig hergestellte Zisternen für die Versorgung eines Großdorfes. Während man hier mit einer wohlgeplanten Gründung um das 1. Jh. n.Chr. rechnet, war Kutle III sowohl in edomitischer wie in byzantinischer Zeit bewohnt, lag aber dazwischen fast 1000 Jahre brach. Die schnelle Aufeinanderfolge von Neuentdeckungen ließ den Forschern kaum Zeit, immer neue Namen zu erfinden. Man blieb deswegen bei den zwei in der Umgebung nicht unbekannten Bezeichnungen "Kutle" und "Deraj", denen entweder Ziffern oder Anfangsbuchstaben der Entdecker angehängt wurden.
Wie man in dieser Zeit auf dem Djebel Suffaha wirtschaftete, wissen wir nicht genau, gab Dr. Lindner zu. Daß es reiche Gutsbesitzer waren, die im komfortableren Petra wohnten und hier Pächter oder Sklaven arbeiten ließen, klingt recht wahrscheinlich. In Deraj I könnte eine "villa rustica" darauf hindeuten, daß ein Besitzer gelegentlich die kühlere Jahreszeit auf dem Berg verbrachte. Für Arbeiter war jedenfalls nicht viel Platz in den Häusern.
Nach dem Sieg der islamischen Heere im 7. Jh. wurde der Djebel Suffaha verlassen. Vorher hatte man noch zwei bedeutende Personen in steiler Felswand beigesetzt. Die Fassade ist eben so schmucklos wie das Innere mit zwei aus dem Fels gehauenen Gräbern. Es sieht so aus, als wäre die nabatäische Tradition geschmückter Fassaden, die Petra so berühmt machten, durch römische Sachlichkeit oder Geldmangel gebändigt worden.
Als europäische Kreuzritterheere das Heilige Land heimsuchten, entstanden auf dem Berg drei spätislamische Dörfer. Die dort gefundenen Scherben gehörten zu einer handgefertigten Keramik, wie sie den Forschern von anderen Dörfern der Petra-Region her bekannt war. Man suchte in Verborgenheit und Abgeschiedenheit sichere Bleiben, die wegen ihrer Lage auch verteidigt werden konnten. Immerhin bedeuten die Ruinen eines "khan", daß man auch durchreisende Pilger oder Händler beherbergte, wenn sie sich als harmlos heraustellten. Wie man sich verteidigte, ist gut nachvollziehbar. In Kutle I war ein immer Wasser führender Quellbrunnen von den hoch darüber gebauten Mauern des Dorfes zu überwachen und zu verteidigen. Man weiß nicht recht, schränkt Dr. Lindner ein, ob sich die Menschen des 11./12. Jhs eher vor den neuen Herren schützten oder ob sie deren Vasallen waren.
Während aus der edomitischen und nabatäisch-römischen Zeit keine Heiligtümer gesehen wurden, konnten Prof. Knauf (Univ. Bern) und Prof. Hübner (Univ. Kiel) auf den höchsten Erhebungen des Berges zwei islamische Kultstätten entdecken. Eine war einem verehrten Scheich, die andere dessen Schwester geweiht, erzählte ein gut bewaffneter Amarin-Junge, der seine Ziegen hütende Schwester begleitete und beschützte. Die Spuren der Amarin aus den letzten paar Hundert Jahren sind dürftig. Man findet kaum neuzeitliche Keramik und dann lediglich an den Stellen, wo sich seit den ersten Siedlern nach Regen immer wieder Wasser sammelt. Nachdem die Mehrzahl der einstigen Halbnomaden von der Regierung in einem Dorf angesiedelt wurden, lebte in den Oktobertagen dreier Jahre auf dem Djebel Suffaha gerade eine einzige Familie von nicht mehr als sieben Personen. Junge Mädchen und eine alte Frau hüteten Ziegen und Schafe und ein paar Kamele, um deren Zucht man sich seit geraumer Zeit bemüht. Eine abendliche Einladung erwies die Gastfreundschaft der Familie, aber auch ihre armutbedingte Genügsamkeit. Als sich der Qualm des Feuers verzogen hatte, war in der klaren Gebirgsluft der Sternhimmel mit dem Band der Milchstraße in einer Klarheit zu sehen, von der man in der Großstadt nur träumen kann.