Was menschliche Fossilien über Lebensgeschichten verraten
Der Tübinger Förderpreis für Ältere Urgeschichte und Quartärökologie geht in diesem Jahr an Dr. Paola Cerrito von der Universität Zürich. Die Wissenschaftlerin erhält die Auszeichnung für ihre Dissertation »Histological and elemental markers of physiological stressors in hard tissues«. In dieser untersuchte sie, wie Ereignisse, die den Stoffwechsel beeinflussen wie Fortpflanzung, Wechseljahre und Veränderungen der Lebensgewohnheiten, dauerhaft im Skelett gespeichert werden. Dieses gilt als biologisches Archiv eines Menschenlebens. Übertragen auf fossile Menschenreste können so neue Einblicke in die Lebensgeschichten von Individuen und die Entwicklung menschlicher Besonderheiten gewonnen werden, wie beispielsweise ungewöhnlich kurze Geburtenabstände und eine verlängerte postreproduktive Lebensspanne.
Paola Cerrito (geboren 1990 in Italien) studierte Biologische Anthropologie an der Sapienza Universität Rom. Den gleichnamigen Masterstudiengang absolvierte sie an der Universität New York und wurde dort 2022 promoviert. Sie war Gastwissenschaftlerin an der Universität Genf, arbeitete als Postdoc an der ETH Zürich und seit August 2023 an der Universität Zürich. Ab Juli 2024 wird sie als Assistant Professor für Evolutionäre Anthropologie an der Duke Universität in Durham (USA) tätig sein.
Cerrito forscht an der Frage, wie sich bestimmte Lebensmuster in der Evolution des Homo Sapiens ausgebildet haben: In welchem Alter wurden Frauen zum ersten Mal schwanger, in welchem Abstand gebaren sie Kinder, wie lange lebten sie nach der Menopause, und wie veränderte sich dies im Lauf der Zeit? Die Entwicklung solcher lebensgeschichtlichen Variablen lässt sich traditionell schwer untersuchen: Knochen und andere mineralisierte Gewebe werden hauptsächlich bereits in Kindheit und Jugend gebildet, so dass kaum Spuren von Ereignissen im Erwachsenenalter erhalten bleiben.
Cerrito konzentrierte sich daher auf ein in dieser Beziehung wenig erforschtes Zahngewebe, den Wurzelzement, der die Zahnwurzel im Kiefer mitverankert. Das Besondere an diesem Zement ist, dass er sich während des gesamten Lebens des Individuums weiter in einer Art Jahrringen ablagert. Ausgehend von verbesserter histologischer Präparation und Bildgebungsverfahren untersuchte die Preisträgerin Proben von Menschen mit bekannter Lebens- und Krankengeschichte. Sie konnte zeigen, dass sich Ereignisse wie Geburten und Menopause im Zement feststellen und anhand der jährlichen Ablagerungen einem Lebensalter zuordnen lassen.
Mit Synchrotonstrahlung an der ELETTRA SYRMEP-Beamline belegte sie, dass solche »histologischen Marker« unter Verwendung von virtueller Histologie nachweisbar sind. Da dabei die Zähne nicht zerstört werden müssen, können so auch seltene fossile Menschenreste untersucht werden. In einer Pilotstudie wandte sie diese Methoden erstmals an Neandertalerzähnen aus Krapina (Kroatien; ca. 130.000 Jahre alt) und Zähnen früher Ackerbauern aus dem heutigen Serbien an. Allerdings sind die histologischen Marker unspezifisch, es lässt sich nicht zwischen Anzeichen einer Schwangerschaft oder Anzeichen der Menopause unterscheiden.
Deshalb untersuchte Cerrito zusätzlich, welche chemische Signatur verschiedene lebensgeschichtliche Ereignisse am Skelett hinterlassen. Ziel der Forscherin ist es, sowohl die Evolution der typisch menschlichen Lebensgeschichte nachzuzeichnen sowie das Ineinandergreifen der dabei wirksamen Entwicklungsstränge zu verstehen, beispielsweise das Sozial- und Fortpflanzungsverhalten sowie die Notwendigkeit, vorhandene Nahrungsressourcen optimal auszuschöpfen.
Der mit 5.000 Euro dotierte Förderpreis für Urgeschichte und Quartärökologie ist von der Mineralwassermarke EiszeitQuell gestiftet und wird in diesem Jahr zum 26. Mal vergeben.
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