Was antike Gesellschaften zusammenhielt: Neues Forschungsprojekt untersucht lokale Gruppen
Um diese Lücke zu füllen, nimmt sich jetzt ein neues Forschungsprojekt an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) dieses Themas an. "Lokalität und Gesellschaft: horizontale Bindungskräfte in der Antike" lautet sein Name; die daran beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler interessieren sich für selbstregelnde Gruppen in lokalen Ordnungen in einem etwa 1.000 Jahre übergreifenden Zeitraum. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert das Projekt in den kommenden drei Jahren mit gut 1,4 Millionen Euro.
"Wenn Individuen gemeinsame Bedürfnisse haben, schließen sie sich häufig zusammen. Denn in der Gruppe ist es einfacher, geteilte Interessen zu verfolgen und gegebenenfalls gegen Widerstand anderer gesellschaftlicher Akteure durchzusetzen. In der Stadt Rom etwa gab es während des ersten Jahrhunderts v. Chr. viele Ausschreitungen und gewaltsame Auseinandersetzungen. Deswegen bildeten sich Bürgerwehren zum Schutz von Leben und Ordnung. Aus der Perspektive ihrer Gegner waren das allerdings bloße Banden, die erst recht für Unsicherheit sorgten", schildert Professor Rene Pfeilschifter den Hintergrund des Forschungsprojekts.
Professorin Barbara Schmitz, Inhaberin des Lehrstuhls für Altes Testament und biblisch-orientalische Sprachen, Professor Jan Stenger, Inhaber des Lehrstuhls für Klassische Philologie I mit dem Schwerpunkt Gräzistik, und Pfeilschifter, Inhaber des Lehrstuhls für Alte Geschichte, haben den interdisziplinären Verbund an der JMU initiiert, der in drei Teilprojekten organisiert ist. Konkret sind dies, gereiht nach Untersuchungszeit:
- "Selbstorganisierung und horizontale Bindungskräfte: Lokale Autoritäten im antiken Judentum vom 6. Jahrhundert v. Chr. bis zum 1. Jahrhundert n. Chr." unter der Leitung von Barbara Schmitz,
- "Horizontale Bindungskräfte, staatliche Regulierung und lokale Zivilgesellschaft: die Stadt Rom und das westliche Kleinasien in der späten Republik", geleitet von Rene Pfeilschifter und
- "Mönchtum und lokale Selbstorganisierung: Monastische Briefe, horizontale Bindungskräfte und städtische Gesellschaft in der Spätantike". Verantwortlich dafür ist Jan Stenger.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt und soziale Kohäsion entstehen nicht in Regulierungsversuchen von oben, sondern vielmehr in Formen lokaler Organisierung. "Von besonderem Interesse sind für uns beispielsweise die lokalen Autoritäten, die wir gut in den antiken jüdischen Gemeinschaften studieren können. Ihre Besonderheit ist es, dass sie informell und zudem kollegial organisiert sind und über Jahrhunderte Governance-Prozesse auf lokaler Ebene gestalten – und zwar an ganz verschiedenen Orten und unter differierenden staatlichen Rahmenbedingungen", erklärt Barbara Schmitz.
Auch wenn die in den drei Teilprojekten analysierten Gruppen zu unterschiedlichen Epochen aktiv waren, besitzen sie dennoch eine Reihe gemeinsamer Eigenschaften. "So haben ihre Mitglieder die institutionelle Ordnung ihrer Gruppe, ob formell oder informell, selbst festgelegt", erläutert Schmitz. Darüber hinaus waren Rollen und Funktionen der Mitglieder nicht dauerhaft zugewiesen, vielmehr wechselten sie sich in ihren Rollen und Funktionen ab.
In selbstregelnden Gruppen dominierten außerdem horizontale Bindungskräfte. Damit standen sie quer zur hierarchischen Welt antiker Gesellschaften. Statt der sonst üblichen autoritativen staatlichen Regulierung herrschten dort Pluralität und Selbstorganisierung. "In Gaza und in Ägypten beispielsweise können wir anhand zahlreicher überlieferter Briefe die Entstehung und Wirkungsweise lokaler Selbstorganisierung im spätantiken Römischen Reich untersuchen", so Jan Stenger. "Lokale Gruppen versuchten dort Probleme und Konflikte, die sich im Zusammenleben ergaben, untereinander zu lösen, indem sie christliche Mönche ihrer Umgebung um Rat fragten. Wenn dies gelang, konnten die horizontalen Bindungen innerhalb der Gruppe gestärkt werden, ohne dass Autoritäten von oben einwirkten."
Der Forschungsverbund verschiebt damit den Fokus weg von vertikalen Patronage-Verhältnissen hin zu der Pluralität lokaler, selbstregelnder Gruppen. Damit wollen die Beteiligten auch das Bild der antiken Gesellschaften als ausgesprochen top-down orientierten, elitären Ordnungen revidieren. "Das übergreifende Ziel des Projekts ist es, durch Einzelfallstudien zu zeigen, in welcher Weise in den grundsätzlich hierarchisch strukturierten Ordnungen des Altertums horizontale Bindungskräfte den Zusammenhalt und das Funktionieren der Gesellschaft auf der lokalen Ebene beeinflussten", erklärt Stenger.
Unter welchen Bedingungen wurden horizontale Bindungskräfte wirksam? Welche sozialen Mechanismen integrierten die Zusammenschlüsse von Individuen? Welche Rolle spielten diese selbstorganisierenden Gruppen in den lokalen Ordnungsarrangements? Diese und viele weitere Fragen wollen die Forschungsteams in den kommenden Jahren beantworten. "Wir gehen dabei davon aus, dass das Wirken horizontaler Bindungskräfte, da querliegend, nicht bloß Spannungsverhältnisse generierte, die von den lokalen Gesellschaften überwunden werden mussten", sagt Pfeilschifter. Denkbar sei vielmehr, dass auch und vielleicht gerade in den vorwiegend hierarchisch orientierten Ordnungen der Antike der gesellschaftliche Zusammenhalt in mehr oder weniger großem Maße auf horizontale Bindungskräfte angewiesen war.
Dieses Modell liegt den drei unterschiedlich profilierten Projekten aus der Alten Geschichte, dem Alten Testament und der Klassischen Philologie zugrunde. Analysiert werden Fallbeispiele aus unterschiedlichen Epochen und verschiedenen Regionen. Angestrebt werden statt Repräsentativität exemplarische historische Konkretisierungen innerhalb einer großen Bandbreite an denkbaren und tatsächlichen Konstellationen.
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