Spurensuche in Dolinen
Der Laie spricht vermutlich von "Löchern im Boden". Wer es etwas präziser formulieren möchte, könnte sie "schüsselförmige Eintiefungen" nennen. In der Fachsprache heißen sie "Dolinen": Senken im Boden, deren Durchmesser mal wenige Meter, mal mehrere zehn Meter beträgt und die eine typische Erscheinung in Karstgebieten sind.
Solche Dolinen stehen im Mittelpunkt eines neuen Forschungsprojekts an der Universität Würzburg, das die Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG vor Kurzem genehmigt hat. Federführend dabei sind Prof. Frank Falkenstein, Inhaber des Lehrstuhls für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie, und Birgit Terhorst, Professorin für Physische Geographie und Bodenkunde. Mit einer genauen Untersuchung von Dolinen in der "Windsheimer Bucht" wollen sie klären, wie Menschen vor rund 10.000 bis 2.000 Jahren in dieser Region lebten und wie sie ihre Umwelt gestalteten.
"Dolinen sind eine typische Erscheinung der fränkischen Landschaft", erklärt Birgit Terhorst den geographischen Hintergrund des Forschungsprojekts. Grund dafür sind die zahlreichen Gipsvorkommen im Boden. Kommt Gips mit Wasser in Kontakt, löst er sich darin auf; in der Folge bilden sich Löcher und Höhlensysteme im Erdreich – "Erdfälle", wie Terhorst sagt. Diese Gruben sind nicht nur für Bodenkundler interessant; auch für Archäologen lohnt sich dort der Blick in die Tiefe. "Dolinen sind Sedimentfallen. Da sammelt sich alles, auch die Spuren von Menschen", sagt die Professorin.
Weil die Böden in der mainfränkischen Region sehr fruchtbar sind, hätten sich früh bäuerliche Kulturen niedergelassen und Ackerbau und Viehzucht betrieben. Dagegen bildete die Windsheimer Bucht, ein Gebiet westlich der mittelfränkischen Stadt Bad Windsheim, eine siedlungsungünstige Landschaftsnische. Dennoch haben auch dort schon vor einigen tausend Jahren immer wieder Menschen gelebt. "Die ältesten Spuren menschlicher Besiedlung dort stammen aus der Zeit um 5200 vor Christus", sagt Frank Falkenstein. "Archäologische Ablagerungen in verblüffend guter Qualität" reichen weit in prähistorische Zeit zurück, so der Archäologe. Zu finden sind sie als verschüttete Kulturschichten in den Gipskarstdolinen.
Fragmente von Keramikgefäßen, verbrannte vegetarische Speisereste, Tierknochen: Funde wie diese geben den Archäologen Auskunft über das Leben der frühen Bewohner. "Wir können damit beispielsweise ihren Nahrungserwerb rekonstruieren", sagt Falkenstein. Gingen sie zur Jagd oder hielten sie Haustiere? Die Zusammensetzung der Haustierherden etwa im Hinblick auf Arten, Geschlecht und Schlachtalter gibt Hinweise auf die Nutzung der Tiere als Fleisch-, Milch- und Wolllieferanten. Fragen wie diese können von Archäozoologen anhand der hervorragend erhaltenen Knochenreste beantwortet werden, die in den Ablagerungen der Dolinen zu finden sind.
Verkohlte Getreidereste erlauben dem Archäobotaniker Rückschlüsse auf den Pflanzenbau: Finden sich beispielsweise in den Tiefen der Dolinen neben Getreidekörnern auch sogenannte "Druschreste" – also Pflanzenbestandteile, die beim Dreschen übrig bleiben – bedeutet dies, dass die frühen Bewohner in unmittelbarer Nähe Getreide sowohl angebaut als auch verarbeitet haben. Fehlen diese Druschreste, spricht dies für einen Import des Getreides in konsumfertigen Zustand.
"Dolinen sind sowohl ein archäologisches Archiv als auch ein physisch-geographisches", sagen die beiden Wissenschaftler. Aus diesem Grund habe sich eine Zusammenarbeit beider Disziplinen angeboten. Das gemeinsame Forschungsprojekt sei eine wunderbare Möglichkeit, die beiden Ansätze miteinander zu verknüpfen. Außerdem sei das Thema für Geographen auch deshalb spannend, weil der Gipskarst bislang noch wenig untersucht ist und es wenig Literatur über die Auflösung des Gesteins gebe, so Birgit Terhorst.
Wie sah die Landschaft vor gut 6000 Jahren aus? Wie war das Klima? Welche Pflanzen wuchsen damals? Auf diese Fragen werden Terhorst und ihr Team Antworten suchen. Was fand der Mensch vor? Was hat er getan? Wie hat er die Landschaft verändert? Diesen Fragen werden Frank Falkenstein und seine Mitarbeiter nachgehen – und das von der Jungsteinzeit über die Bronze- bis in die Eisenzeit hinein, also bis etwa 500 vor Christus. Auf diese Weise wollen sie für verschiedene prähistorische Perioden modellhafte Vorstellungen von der Landschafts- und Siedlungsentwicklung gewinnen und so, erstmals für den nordbayerischen Raum, eine 5000-jährige Abfolge von Besiedlung und Siedlungslücken in direkten Kontext zur landschaftsgeschichtlichen Entwicklung setzen.
"Prähistorische Mensch-Umwelt-Beziehungen im Gipskarst der Windsheimer Bucht, Nordbayern. Dolinen als Archive für Siedlungs- und Landschaftsentwicklung": So lautet der exakte Titel des Forschungsprojekts. Die DFG wird es in den kommenden drei Jahren mit rund 376.000 Euro finanzieren. Die Untersuchungen finden in einem Gebiet mit einer Fläche von rund 68 Quadratkilometer statt; in sie einbezogen werden drei miteinander vernetzte Landschaftsformen: die Gipskarst-Hohlformen bei Marktbergel, Hänge, Kuppen und Tallagen mit flächiger archäologischer Befundsituation sowie ein heute verlandetes Seebecken bei Burgbernheim-Schwebheim.
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