Mehr als 1.000 antike Siegelabdrücke entdeckt
Altertumswissenschaftler des Exzellenzclusters "Religion und Politik" der Uni Münster haben in der Südosttürkei einen großen Fund an Siegelabdrücken gemacht. "Die einzigartige Artefaktgruppe aus mehr als 1.000 Stücken, die aus dem städtischen Archiv der antiken Stadt Doliche stammen, gibt viele Einblicke in die griechisch-römische Götterwelt – von Zeus über Hera bis zu Iuppiter Dolichenus, der von diesem Ort aus zu einem der wichtigsten römischen Gottheiten wurde", erläutert Altertumswissenschaftler und Grabungsleiter Prof. Dr. Engelbert Winter vom Exzellenzcluster zum Ende der Grabungssaison. "Dass die Verwaltung hunderte Dokumente mit den Götterbildern besiegelte, zeigt, wie stark die religiösen Vorstellungen den Alltag prägten. Der Kult um Iuppiter Dolichenus fand nicht nur im nahe gelegenen Zentralheiligtum statt, sondern prägte auch das Stadtleben", so Prof Winter. "Deutlich wird außerdem, wie stark Iuppiter Dolichenus, der ursprünglich an diesem Ort verehrt wurde, im 2. und 3. Jahrhundert nach Christus mit dem ganzen römischen Reich verbunden war: Viele der Bilder zeigen den Gott im Handschlag mit verschiedenen römischen Kaisern."
Das Grabungsteam erforscht das Heiligtum des Soldatengottes Iuppiter Dolichenus seit 17 Jahren. In diesem Jahr konzentrierte es sich auf das Stadtgebiet. "In einem Gebäudekomplex konnten wir unter einem um 400 nach Christus zu datierendem Mosaik einen noch älteren Mosaikboden von ebenfalls sehr hoher Qualität freilegen", so Prof. Winter. "Nach jetzigem Stand deutet viel auf eine spätantike Kirche hin. Das könnte sich als ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der Geschichte des frühen Christentums in der Region erweisen." Die Grabungen in dem dreischiffigen Gebäudekomplex hatten 2015 begonnen. Inzwischen sind 150 Quadratmeter des großen, von Säulen umstandenen Mittelschiffs freigelegt worden. Engelbert Winter: "Auf eine Kirche weisen neben der Architektur auch Einzelfunde aus dem Umfeld hin wie die Fragmente eines Marmortisches oder die durch eine Inschrift bezeugte Erwähnung eines Diakons."
Die Forscher fanden inzwischen auch das öffentliche Zentrum der Stadt Doliche, das sie zunächst durch geophysikalische Prospektionen im Osten des Stadtgebietes lokalisiert hatten. "Diese Annahme hat sich bestätigt“, so der Grabungsleiter. „Wir konnten Teile eines sehr großen Gebäudes freilegen: Es handelt sich um eine mit gut erhaltenen Mosaiken ausgestattete Badeanlage der römischen Kaiserzeit. Da bislang kaum römische Thermen aus der Region bekannt sind, ist diese Entdeckung von großer wissenschaftlicher Bedeutung." Das Forscherteam aus Münster brachte auch neue Erkenntnisse zur Ausdehnung des Stadtgebietes und zur Chronologie der Stadt mit: Ein in diesem Jahr auf dem Siedlungshügel der antiken Stadt, dem Keber Tepe, durchgeführter intensiver Survey führte dabei zu durchaus überraschenden Ergebnissen: "Eine Vielzahl von Funden der Steinzeit deutet darauf hin, dass der Keber Tepe schon sehr früh offensichtlich ein sehr bedeutender Ort war. Seine größte Ausdehnung erreichte Doliche dann in der römischen und frühbyzantinischen Zeit."
Zum großen Fund der Siegelabdrücke führte Grabungsleiter Winter aus: "Viele Siegel lassen sich aufgrund ihrer Größe, des häufigen Auftretens und in einigen Fällen auch aufgrund von Inschriften den administrativen oder offiziellen Siegeln der Stadt zurechnen. Neben den Abbildungen der 'Stadtgöttin' Tyche verdienen vor allem die Darstellungen des Augustus und der Dea Roma Beachtung, weisen diese doch auf die wichtige Rolle des römischen Kaisers und der personifizierten Göttin des römischen Staates für die an der östlichen Grenze des Imperium Romanum liegende Stadt Doliche. Zentrales Motiv ist aber der wichtigste Gott der Stadt, Iuppiter Dolichenus. Sein Kult breitete sich im 2. und 3. Jahrhundert nach Christus in weite Teile der Mittelmeerwelt hinein bis nach Britannien aus", erläutert Prof. Winter. Daher verwundere es nicht, wenn Hunderte von Dokumenten mit Bildern besiegelt wurden, die den Handschlag zwischen Gott und Kaiser zeigen. "Damit wurde die tiefe Verbundenheit des Gottes mit dem römischen Staat zum Ausdruck gebracht."
Die Bilder liefern zugleich Erkenntnisse über den Kult selbst. So fanden sich neben Abdrücken von Büsten des Iuppiter und seiner Gemahlin Iuno Darstellungen der göttlichen Zwillinge Kastor und Pollux, den Söhnen des Zeus. "Die Söhne des Zeus, auch Dioskuren oder Castores Dolicheni genannt, werden häufig als Begleiter des Iuppiter dargestellt und spielen daher eine wichtige Rolle im Kultgeschehen", erläutert Prof. Winter.
Die Forschungsstelle Asia Minor der Universität Münster gräbt unter der Leitung von Prof. Winter vom Exzellenzcluster "Religion und Politik" seit 2001 mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Hauptheiligtum des Iuppiter Dolichenus. Die internationale Gruppe aus Archäologen, Historikern, Architekten, Restauratoren, Archäozoologen, Geoinformatikern und Grabungshelfern legte jedes Jahr Funde aus allen Epochen der 2.000-jährigen Geschichte des Kultplatzes frei, etwa die mächtigen Fundamente des ersten eisenzeitlichen Heiligtums, zahlreiche monumentale Architekturfragmente des römischen Haupttempels, aber auch weitläufige Ruinen einer bedeutenden byzantinischen Klosteranlage, die nach dem Untergang des antiken Heiligtums durch Anhänger des christlichen Glaubens an diesem Ort erbaut wurde. Um heute das Grabungsareal nahe der antiken Stadt Doliche einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wird an einem Archäologischen Park gearbeitet. Eng mit der Grabung vernetzt ist Prof. Winters Forschungsprojekt am Exzellenzcluster "Religion und Politik". Es trägt den Titel "Sichtbarkeit, Selbstdarstellung und Rezeption syrischer Kulte im Westen des Imperium Romanum".
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