Langsame und späte Evolution des menschlichen Gehirns
Die ältesten Fossilien unserer eigenen Art Homo sapiens aus Jebel Irhoud in Marokko wurden von Forschern der Abteilung für Humanevolution am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie auf ein Alter von etwa 300.000 Jahren datiert. Verschiedene Print- und Onlinemedien haben diese Forschung zu einer der Top-Wissenschaftsmeldungen des Jahres 2017 gekürt. Zusammen mit Schädelfunden aus Florisbad, Südafrika (260.000 Jahre) und Omo Kibish, Äthiopien (195.000 Jahre) dokumentieren die Jebel Irhoud Fossilien eine frühe evolutionäre Phase des Homo sapiens auf dem afrikanischen Kontinent. Ihre Gesichtsschädel und Zähne sehen modern aus, doch die länglichen Gehirnschädel erscheinen archaisch und ähneln eher denen von älteren Menschenarten und Neandertalern. Heute lebende Menschen zeichnen sich hingegen durch einen runderen Gehirnschädel aus.
Mitglieder des gleichen Forscherteams veröffentlichen nun weitere überraschende Erkenntnisse über die Gehirnevolution des Homo sapiens. Die Paläoanthropologen Simon Neubauer, Jean-Jacques Hublin und Philipp Gunz haben mit Hilfe der sogenannten Mikro-Computertomographie virtuelle Abdrücke der inneren Schädelhöhle verschiedener Fossilien und heute lebender Menschen erzeugt – sogenannte Endocasts – und statistisch analysiert.
Evolution von Scheitellappen und Kleinhirn
Die Ergebnisse zeigen, dass sich das Gehirn von Homo sapiens allmählich von einer länglichen zu einer runderen Form entwickelt hat. Zu diesem Prozess tragen insbesondere Veränderungen in zwei Gehirnarealen bei: Die Wölbung des Scheitellappens im Großhirn und die Wölbung des Kleinhirns nehmen zu. Hirnareale in dem auch Parietallappen genannten Teil der Großhirnrinde beeinflussen Orientierung, Aufmerksamkeit, Wahrnehmung von Reizen, die sensomotorische Integration von Planungsprozessen, die visuell-räumliche Integration, Selbstwahrnehmung, das Arbeits- und Langzeitgedächtnis, numerische Verarbeitung und Werkzeuggebrauch. Das Kleinhirn steuert nicht nur motorische Funktionen wie die Koordination von Bewegungen und die Balance, sondern steht auch im Zusammenhang mit räumlichen Verarbeitungsprozessen, Arbeitsgedächtnis, Sprache, sozialer Kognition und Verarbeitung von Emotionen.
Je jünger Fossilien von Homo sapiens sind, desto moderner wird die Form ihres Gehirnschädels. Doch erst Fossilien, die jünger als 35.000 Jahre alt sind, besitzen die gleiche runde Form wie Menschen heute. Das bedeutet, dass sich die moderne Gehirnorganisation zwischen 100.000 und 35.000 Jahren herausbildete. Wichtig ist, dass sich diese Formveränderungen unabhängig von der Gehirngröße entwickelten – mit Hirnvolumina von etwa 1.400 Millilitern hatten selbst die ältesten Homo sapiens-Fossilien von Jebel Irhoud schon eine ähnliche Gehirngröße wie heute lebende Menschen.
„Das Gehirn ist das Organ, das uns Menschen ausmacht“, sagt Neubauer. Doch die moderne menschliche Gehirnform ist nicht wie andere Schlüsselmerkmale unseres Schädels und unserer Zähne bereits früh in der Evolutionsgeschichte unserer Art Homo sapiens entstanden. Neubauer fügt hinzu: „Wir wussten bereits, dass sich die Gehirnform innerhalb unserer eigenen Spezies entwickelt haben muss, waren aber überrascht, wie spät im Laufe der Evolution diese Veränderungen der Gehirnorganisation den heutigen Zustand erreicht haben.“
Evolutionäre Veränderung der Gehirnentwicklung bei Neugeborenen
Beim heutigen Menschen entwickelt sich die charakteristische runde Form des Gehirns und des Gehirnschädels innerhalb weniger Monate um den Zeitpunkt der Geburt herum. Philipp Gunz erklärt: „Die Evolution der Gehirnschädelform beim Homo sapiens deutet auf evolutionäre Veränderungen der frühen Gehirnentwicklung hin – einer kritischen Zeit für die neuronale Vernetzung und kognitive Entwicklung im frühen Kindesalter.“ Die Forscher vermuten daher, dass evolutionäre Veränderungen der frühen Hirnentwicklung entscheidend für die Evolution komplexer Denkprozesse beim Menschen sind. Jean-Jacques Hublin, Co-Autor und Direktor der Abteilung für Humanevolution am Max-Planck-Institut in Leipzig, sagt: „Die allmähliche Entwicklung hin zu einer modernen menschlichen Gehirnform scheint mit der allmählichen Entstehung moderner Verhaltensweisen parallel verlaufen zu sein, auf die man aufgrund archäologischer Belege schließen kann.“
Die Ergebnisse der Forscher stimmen auch mit neuen genetischen Studien überein: Wichtige Veränderungen in Genen, die die Gehirnentwicklung des modernen Menschen beeinflussen, sind aufgetreten, nachdem sich Homo sapiens und Neandertaler voneinander getrennt hatten. Immer mehr genetische, archäologische und paläoanthropologische Belege zeigen also, dass der Homo sapiens tiefe afrikanische Wurzeln hat und bis heute allmähliche Veränderungen im Verhalten, der Gehirnorganisation und möglicherweise auch der Gehirnfunktion durchlebt hat.
Publikation
The evolution of modern human brain shape
Science Advances. 24. Januar 2018
DOI: 10.1126/sciadv.aao5961
http://advances.sciencemag.org/content/4...
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