Hundert Jahre "Septuaginta"
Das Göttinger Septuaginta-Unternehmen ist ein Forschungsprojekt, das nun seit hundert Jahren läuft und jeden Wissenschaftler, der nicht über sehr viel Geduld und Akribie verfügt, in den Wahnsinn treiben dürfte: Aber dafür hat man es auch mit einem sowohl für das Judentum als auch für das Christentum heiligen Text zu tun.
Einer Sage nach trafen sich 72 Gelehrte auf einer Insel und übersetzten dort in 72 Tagen das Alte Testament aus dem Hebräischen ins Griechische. Und weil sich "Zweiundsiebzig" auch im Lateinischen offenbar nicht so griffig anhörte wie "Siebzig", bekam das Werk den Namen "Septuaginta". Tatsächlich aber weiß kein Mensch genau, von wem, wann und wo der "Septuaginta" -Text niedergeschrieben worden ist.
Allerdings gibt es Hinweise dafür, dass griechische Gelehrte in Alexandria im 3. Jh. v. Chr. mit der Übersetzung begonnen haben. Zu dieser Zeit konnten immer weniger Menschen Hebräisch verstehen; Griechisch war die Weltsprache. Außerdem dürfte das Unterfangen nicht nur einige Tage, sondern eher Jahrhunderte gedauert haben, nämlich bis ins 2. Jh. n. Chr. - eine schon für die Antike "irrsinnige Übersetzungsarbeit", wie Reinhard Kratz es ausdrückt. Der Göttinger Professor für Theologie ist der Projektleiter des "Septuaginta-Unternehmens" der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, eines Forschungsvorhabens, das sich mit der Edition eines Grundlagentextes der heutigen Kulturgeschichte beschäftigt und Forscher aus der ganzen Welt in das Lagarde-Haus, eine Villa im Zentrum der Universitätsstadt, zieht.
Das Haus hat seinen Namen von dem Pionier der Septuaginta-Forschung, Paul Anton de Lagarde (1827-1891), einer durchaus umstrittenen Persönlichkeit. Lagarde war einerseits ein extrem vielseitiger und gelehrter Wissenschaftler, andererseits vertrat er radikalkonservative und nationalistische Ansichten. Er zweifelte am Modernismus, galt als einer der Hauptfeinde des Liberalismus und förderte den Antisemitismus. Um so erstaunlicher, dass gerade er ein Vorhaben zu seinem Lebenswerk erkor, das bis heute Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen und religiöser Ansichten überall in der Welt verbindet. Allerdings hatte sich Lagarde gründlich verschätzt. Er glaubte, allein und zu Lebzeiten den ursprünglichen Septuaginta-Text herausgeben zu können.
Dieses Ziel haben die Wissenschaftler nach hundert Jahren Forschungsarbeit längst relativiert. Inzwischen spricht Dr. Bernhard Neuschäfer, der seit 5 Jahren im Septuaginta-Unternehmen arbeitet, von einer "so vollständig wie möglichen Erfassung der gesamten griechischen handschriftlichen Überlieferung" und der auf "dieser Materialbasis vorzunehmenden Rekonstruktion der ältesten erreichbaren griechischen Textform."
Die Schwierigkeiten, die sich dem Forschungsprojekt stellen, liegen in Folgendem: Kaum hatten die Gelehrten einen Teil des hebräischen Textes ins Griechische übersetzt, kamen andere Gelehrte und meinten, diese Übersetzungen überarbeiten zu müssen, und zwar so, wie es ihrer persönlichen und ihrer durch die gesellschaftlichen, geistes- und kulturgeschichtlichen Umstände geprägten Auffassung entsprach. Die ursprüngliche Übersetzung aus den verschiedenen Schichten der späteren Bearbeitungsstufen wieder freizulegen, kommt einer archäologischen oder sogar detektivischen Arbeit gleich. Rund 2000 griechische Handschriften, die den Text der Septuaginta überliefern, sind bisher bekannt geworden - eine für die antike Literatur gewaltige Zahl - und eine für die Forschung immense Menge an Quellenmaterial. Hinzu kommt, dass immer wieder neue Funde auftauchen. In den Qumran-Rollen zum Beispiel befanden sich neben den hebräischen Texten auch griechische Septuaginta-Texte.
Nachdem Lagardes Forschung nach umfangreichen Vorarbeiten "liegen geblieben" war, wie sein Nachfolger Julius Wellhausen (1844-1918) kühl bemerkte, blieb die Aufgabe an dem Musterschüler Lagardes, Alfred Rahlfs (1865-1935), hängen. Gemeinsam mit dem Göttinger Alttestamentler Rudolf Smend setzte er sich für das Projekt 1907 beim "Preußischen Ministerium der Geistlichen, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten" ein. Unterstützung bekamen sie von einer Gruppe prominenter Göttinger Gelehrter, so dass das Septuaginta-Unternehmen am 1. April 1908 seine Arbeit als Einrichtung der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen aufnehmen konnte.
Wie wenig Rahlfs damals ahnte, was für ein Mammutprojekt er angestoßen hatte, lässt sich einer Bemerkung in der von ihm verfassten Denkschrift an das Ministerium aus dem Jahre 1907 entnehmen, in der es heißt: "Die Dauer des Unternehmens schätze ich auf 30 Jahre..." Die erste Handlung von Rahlfs bestand darin, herauszufinden, wo sich welche Septuaginta-Handschrift befand. Dazu führte er Korrespondenzen mit der ganzen Welt, reiste in unzählige Bibliotheken, fotografierte dort die Texte und schrieb sie per Hand ab. Eine enorme Leistung, und Neuschäfer bescheinigt ihm, in den Bibliotheken "so gut wie nichts" übersehen zu haben.
Inzwischen verfügt die Göttinger Septuaginta-Arbeitsstelle über eine einzigartige Sammlung von Fotografien, Mikrofilmen und Digitalisaten der griechischen Handschriften. In den vergangenen hundert Jahren sind 23 Bände der Septuaginta-Edition erschienen, das sind ungefähr zwei Drittel des Gesamtplans der Ausgabe. Ein Editor kann durchaus bis zu 15 Jahren an einem Band arbeiten, bis er die gesamte Textüberlieferung ausgewertet und den ältesten erreichbaren Text wiederhergestellt hat. Durch neue Funde muss dann aber jeder Band auch wieder überarbeitet werden. Zudem legt unter anderem die Forschung an den griechischen Texten inzwischen nahe, dass es nicht nur einen hebräischen Text als Vorlage für die ursprüngliche Septuaginta-Fassung gegeben hat.
Vom 28. - 30. April 2008 werden Experten auf der Internationalen Fachtagung "Die Göttinger Septuaginta-Edition - Standortbestimmung eines Jahrhundertprojekts" die Editionsprinzipien und Editionsmethoden auch unter Einbeziehung neuer technologischer Entwicklungen diskutieren. Durch die "ständige Bewegung" in der Textarbeit an der Septuaginta lässt sich der Projektleiter keinesfalls entmutigen. Im Gegenteil: Kratz findet gerade das "faszinierend". Die immerwährende Frage "Was ist eigentlich der heilige Text?" verhindert seiner Ansicht nach "eine Buchstabengläubigkeit und wehrt jeglichem Fundamentalismus".
Im Rahmen dieser Tagung wird Prof. Dr. Martin L. West aus Oxford einen öffentlichen Vortrag halten zum Thema "Critical Editing" (Montag, den 28. April 2008, 18 Uhr s.t., Aula am Wilhelmsplatz, Göttingen).
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