Entdeckung der bisher ältesten bekannten Hochgebirgssiedlung

Steinzeitjäger siedelten am Gletscher

Bereits vor etwa 40.000 Jahren haben Menschen dauerhaft im Hochgebirge und in Gletschernähe gelebt. Analysen von Besiedlungsspuren aus dem Bale-Gebirge im nordostafrikanischen Äthiopien zeigen, dass zu jener Zeit ein Felsüberhang auf fast 3.500 Metern Höhe offenbar erstmals dauerhaft von steinzeitlichen Jägern besiedelt und seitdem wiederholt als Wohnstätte genutzt wurde. In der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins »Science« berichtet eine internationale Forschungsgruppe über die ältesten Zeugnisse einer prähistorischen Wohnstätte in einem Hochgebirge.

Felsunterstand bei Fincha Habera in den Bale Mountains
Felsunterstände in den Bale Mountains wurden schon vor mehr als 30.000 Jahren von steinzeitlichen Jägern dauerhaft als Wohnstätten genutzt, im Bild das Beispiel von Fincha Habera. Foto: Dr. Götz Ossendorf

Die »Bale Mountains« sind ein Gebirge im nordöstlichen Afrika, dessen Gipfel eine Höhe bis zu 4.300 Meter erreichen. Auf dem gesamten Kontinent gibt es keine größere, geschlossene alpine Landschaft. »Das größte afroalpine Ökosystem gilt als naturnah«, erklärt der Marburger Geograph Professor Dr. Georg Miehe, der als einer der Leitautoren der Studie firmiert; die Berge sollen nach gängiger Auffassung erst in jüngster Zeit besiedelt worden sein. »Jetzt zeigt sich, dass bereits steinzeitliche Jäger dieses Hochgebirge erschlossen haben«, ergänzt der Marburger Biologe Dr. Lars Opgenoorth. »Damit hat sich unser Verständnis unberührter Natur im Hochgebirge gewandelt.«

Wie kamen Menschen in grauer Vorzeit mit dem damaligen Klimawandel zurecht? Wie nahmen sie neue Lebensräume in Besitz, wie formten sie diese ihrerseits um? Das herauszufinden, haben sich Miehe, Opgenoorth und der Marburger Geograph Professor Dr. Thomas Nauss mit einem internationalen Team von Fachleuten aus Biologie, Bodenkunde, Geographie und Archäologie vorgenommen. »Vom Tibetischen Hochland ist erst kürzlich bekannt geworden, dass sich Menschen dort ebenfalls schon vergleichbar früh aufhielten«, führt der Archäologe Dr. Götz Ossendorf von der Universität zu Köln aus; er ist der Erstautor des »Science«-Artikels. »Eine dauerhafte und intensive Besiedlung in großer Höhe war weltweit bislang jedoch nicht belegt; auch die Kontexte früher menschlicher Anpassungen wurden noch kaum untersucht.«

Die Forschungsgruppe führte Ausgrabungen und Geländeerkundungen in den Bale Mountains durch und untersuchte die Funde mit naturwissenschaftlichen Verfahren. Auf 4.200 Metern Höhe über dem Meer identifizierte das Team fünf Stellen, an denen Obsidian gewonnen wurde. Menschen in der Steinzeit nutzten dieses vulkanische Gesteinsglas, um daraus scharfkantiges Werkzeug herzustellen. In der Umgebung förderten die Forscherinnen und Forscher reichlich Reste von Steinen zutage, die von Menschen bearbeitet wurden und auf den Abbau von Obsidian hinweisen.

700 Höhenmeter weiter unten und 10 Kilometer entfernt liegt der Felsunterstand Fincha Habera; dort fanden die Fachleute Steinartefakte, deren Datierung für eine wiederholte Besiedelung des Unterstands in der späten Steinzeit spricht: das war vor 47.000 bis 31.000 Jahren. Die Fundstelle Fincha Habera wurde immer wieder als Wohnstäte genutzt; das belegen auch die Überreste vorzeitlicher Feuerstätten, Spuren der Zubereitung und des Verzehrs von Speisen, aber auch Objekte, die aus niedrigeren Höhenlagen hinaufgeschafft worden sind.  »Basierend auf den radiometrischen Datierungen verschiedenster archäologischer Materialien handelt es sich bei dieser Fundstelle um die früheste längerfristig genutzte Wohnstätte einer Hochgebirgsregion, die uns bisher weltweit bekannt ist«, sagt Dr. Götz Ossendorf.

Der Unterstand befand sich 500 Meter unterhalb der Gletscher – nahe genug, um die erreichbaren Nahrungsressourcen zu nutzen. Als Nahrung diente den Jägern fast ausschließlich die Riesenmaulwurfsratte, die nur in den Bale Mountains vorkommt. Die Ratte war ganzjährig in großen Mengen verfügbar und einfach zu jagen, was langfristige und wiederholte Aufenthalte in sauerstoffarmen Höhen ermöglichte. »Alles in allem zeigen unsere Ergebnisse, dass die steinzeitlichen Jäger kluge, überlebenswichtige Entscheidungen trafen, um in großer Höhe, in kalter und vergletscherter Umgebung zu überleben«, erklärt Opgenoorth. 

Neben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Marburg und Köln beteiligten sich Fachleute aus Bayreuth, Halle und Rostock sowie aus Äthiopien, Frankreich, der Schweiz und den USA an der Publikation in »Science«; so ist die Glaziologie durch Alexander Groos von der Universität Bern und die Bodenkunde durch Professor Dr. Bruno Glaser von der Universität Halle-Wittenberg vertreten. 

Die Berner Forscher Alexander Groos, Prof. Heinz Veit und Dr. Naki Akçar rekonstruierten die steinzeitlichen Umwelt- und Klimabedingungen in der Nähe der Fundstelle. »Die Bale Mountains sind wegen der Lage in den inneren Tropen heute trotz ihrer Höhe unvergletschert«, erläutert Alexander Groos, der im Rahmen seiner Dissertation die Klima- und Landschaftsgeschichte des Hochgebirges untersucht. »Moränenwälle und andere glaziale Hinterlassenschaften zeugen jedoch davon, dass das äthiopische Hochland während der letzten Kaltzeit intensiv vergletschert war«, führt er weiter aus. Gesteinsproben von Moränen aus mehreren Tälern in den Bale Mountains wurden im Labor des Instituts für Geologie an der Universität Bern analysiert und datiert, um den Zeitpunkt der verschiedenen Vergletscherungsphasen genau zu bestimmen. »Unsere Ergebnisse zeigen, dass es in den Bale Mountains vor etwa 40.000 Jahren deutlich kälter war als heute und die steinzeitlichen Jäger unweit der Gletscher siedelten«, so Groos.

Ein Paläothermometer aus Halle

Anhand der Sedimentablagerungen im Boden konnten die beteiligten Forscher der Universität Halle umfangreiche Biomarker- und Nährstoffanalysen sowie Radiokarbondatierungen durchführen und so Rückschlüsse ziehen, wann wie viele Menschen in der Region gelebt haben. Für die Arbeit entwickelten die Wissenschaftler zudem ein neuartiges Paläothermometer, mit dem sich das Wetter in der Region - beispielsweise Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Niederschlagsmengen - grob nachzeichnen lässt. Derartige Analysen sind nur mit möglichst unbelasteten Naturflächen möglich, da das Bodenprofil sonst zu sehr durch jüngere Einflüsse verändert wird. Die relativ unwirtlichen Bedingungen in den Bale-Bergen sind daher die idealen Rahmenbedingungen für die Forschung: Der Boden wurde in den letzten Jahrtausenden nur oberflächlich verändert.

Anhand der Daten können die Wissenschaftler nicht nur zeigen, dass sich dort Menschen über einen längeren Zeitraum aufgehalten haben. Die Analysen liefern womöglich auch die Gründe dafür: Die Siedlung Fincha Habera lag während der letzten Eiszeit außerhalb des Eisrandes der Gletscher. Durch die phasenweise Abschmelzung der Gletscher sei genügend Wasser vorhanden gewesen, so Glaser. Sogar über die Ernährung der Menschen können die Forscher Aussagen treffen: Damals ernährten diese sich überwiegend von Riesennagern. Diese waren leicht zu jagen und lieferten relativ viel Fleisch und damit die nötige Energie, um in der rauen Gegend zu überleben. Vermutlich besiedelten die Menschen das Gebiet auch deshalb, weil in der Nähe eine Obsidian-Lagerstätte lag, aus der sie Obsidian, ein vulkanisches Gestein, abbauen und daraus Werkzeuge herstellen konnten. »Die Siedlung war also nicht nur vergleichsweise wohnlich, sondern auch praktisch«, so Glaser zusammenfassend.

Die Bodenproben verraten zudem ein weiteres Detail der Besiedlungsgeschichte: Ab einem Zeitraum, der circa vor 10.000 Jahren vor unserer Zeitrechnung begann, besiedelten Menschen die Stelle ein zweites Mal - dann wurde der Ort auch vermehrt als Feuerstelle genutzt. Und: »In der Bodenschicht aus dieser Zeit finden sich auch erstmals Exkremente von Weidetieren«, sagt Glaser.

Alle an der Studie beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehören der Forschungsgruppe 2358 der Deutschen Forschungsgemeinschaft an, in der sie erkunden, wie Steinzeitmenschen im östlichen Afrika das Ökosystem des Hochgebirges erschlossen, als sich das Klima wandelte. Auch der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstützte die Gruppe finanziell.

Obsidian-Werkzeug
Typisches Middle Stone Age-Steinwerkzeug (unifazielle Spitze aus Obsidian) mit Benutzungsspuren aus den archäologischen Schichten des Felsunterstands Fincha Habera. Foto: G. Ossendorf
Unterkiefer von Riesenmaulwurfsratten
Unterkiefer der in der afroalpinen Zone endemischen Riesenmaulwurfsratte. Foto: G. Ossendorf
Geologische Probennahme
Probennahme an einem Erratischen Block, der von einem Gletscher auf dem Sanetti Plateau abgelagert wurde. Die Probe wurde anschließend im Labor analysiert und datiert, um den Zeitpunkt des Gletschervorstoßes zu rekonstruieren. Foto: H. Veit
Publikation

Ossendorf G. et al.

Middle Stone Age foragers in the glaciated Bale Mountains, Ethiopia

Science. 2019
DOI: 10.1126/science.aaw8942

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