Ein neuer Raum für eine besondere Frau
Die 30- bis 40-jährige Frau war vor etwa 9.000 Jahren sitzend zusammen mit einem etwa sechs bis zwölf Monate alten Kind bestattet worden. Ein möglicher Kopfschmuck aus Rehgeweih und Tierzahngehänge zeigen die besondere Stellung der Toten als "Schamanin", als spirituelle Anführerin ihrer Gruppe.
Neuuntersuchung der Grabgrube
Das Grab wurde 1934 bei Erdarbeiten zufällig im heutigen Kurpark von Bad Dürrenberg entdeckt und innerhalb nur eines Nachmittages geborgen. Die Neugestaltung des Kurparks im Vorfeld der diesjährigen Landesgartenschau eröffnete die Möglichkeit, den Fundort erneut zu untersuchen. Die Nachgrabungen durch das Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie (LDA) Sachsen-Anhalt ab Dezember 2019 erbrachten beeindruckende neue Erkenntnisse. Die genaue Fundstelle des Grabes konnte lokalisiert werden. Zudem wurden sogar Reste der mit Rötel durchsetzen Grabgrube angetroffen, die 1934 in der Eile nicht komplett ausgegraben worden war. Diese wurden im Block geborgen und in den Werkstätten des LDA Sachsen-Anhalt unter Laborbedingungen untersucht. Dabei wurden zahlreiche neue Funde geborgen, die die bedeutende Stellung der Frau innerhalb ihrer Gesellschaft untermauern und die bekannte Grabausstattung erheblich erweitern. Gleichzeitig erbrachten die Ausgrabungen neue Erkenntnisse zur Grabarchitektur und dem Aussehen der Grabgrube.
Archäogenetische Untersuchungen an "Schamanin" und Kind
Durch umfangreiche archäogenetische Untersuchungen konnten wichtige Aspekte des Aussehens der "Schamanin" eindeutig bestimmt werden. Sie war dunkelhaarig, hatte helle Augen und einen dunkleren Hautton. Das bereits ikonische Lebensbild der "Schamanin" von Karol Schauer wurde entsprechend dieser neuen Erkenntnisse abgeändert. Das aktualisierte Erscheinungsbild ist für westeuropäische Wildbeutergruppen typisch. Weitere mesolithische Personen dieses Phänotyps sind beispielsweise aus dem heutigen Luxemburg, Spanien und England bekannt. Erst mit dem Wechsel zu überwiegend pflanzlicher Nahrung im Neolithikum (circa 5.500 bis 2.200 vor Christus) wurde helle Haut zu einem Vorteil. Sie unterstützt die Produktion von Vitamin D während den langen Phasen der Dunkelheit im Winter der nördlichen Hemisphäre.
Des Weiteren konnten im Zuge der Untersuchungen die Verwandtschaftsbeziehung zwischen der Frau und dem Kind sowie das Geschlecht des Kindes – eines Jungen – geklärt werden. So handelt es sich bei der Doppelbestattung nicht, wie lange angenommen, um die Bestattung von Mutter und Kind, sondern die beiden Individuen sind lediglich Verwandte 4. oder 5. Grades. Auflagerungen am rechten Oberarmknochen (Humerus) und auf der Innenseite eines Schädelfragmentes des Kindes sind die Folge von Einblutungen unter der Haut. Die Ursachen sind ungeklärt. Eventuell handelt es sich um Spuren einer Vitamin-C-Mangelerkrankung (Skorbut).
Neufunde untermauern ihre Stellung
Als Überraschung darf die Entdeckung einer weiteren Grube gewertet werden, die nur einen Meter entfernt vom Grab der "Schamanin" freigelegt wurde. Neben einer Arbeitsplatte aus Sandstein mit deutlichen Bearbeitungsspuren sowie Arbeitsgeräten aus Quarz und Feuerstein wurden die Überreste von zwei schädelechten Rothirschgeweihen entdeckt. Die beiden Geweihe wiesen deutliche Bearbeitungsspuren auf, die ihre Ansprache als Masken untermauern. Die Grube, in der sie gefunden wurden, wurde etwa 600 Jahre nach der Bestattung der "Schamanin" und des Kindes angelegt. Dies lässt darauf schließen, dass die Bestattung der bedeutenden Frau gekennzeichnet war und auch Jahrhunderte nach ihrem Tod noch aufgesucht wurde. Hiervon zeugen auch wertvolle Gaben, die in dieser Zeit an ihrem Grab niedergelegt wurden und die die herausragende Bedeutung der "Schamanin" für ihre Zeit und weit darüber hinaus nochmals unterstreichen.
Die Radiokarbondatierungen rücken die Niederlegung der Geweihe in den Bereich des sogenannten 8.2K-Events: Ab etwa 6.350 vor Christus verschlechterte sich das Klima innerhalb weniger Jahre. Die jährliche Durchschnittstemperatur sank um zwei bis drei Grad Celsius. Möglicherweise suchte man das Grab der "Schamanin" in dieser Situation in der Hoffnung auf Hilfe auf und deponierte die Masken.
Die Gesamtheit dieser neuen, herausragenden Ergebnisse machte eine visuelle und inhaltliche Neugestaltung des Ausstellungsraums zur "Schamanin" im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle (Saale) notwendig. Neben ihrem aktualisierten Lebensbild lässt das ebenfalls von Karol Schauer neu gestaltete Panorama über der Vitrine des Grabes Besucherinnen und Besucher in die Zeit vor über 9.000 Jahren eintauchen. Eine 3D-Nachbildung und eine Filmanimation erläutern Anomalien an Wirbeln und Hinterhauptloch der "Schamanin", die bei bestimmten Bewegungen des Kopfes ein anfallartiges Rollen der Augen (Nystagmus) auslösten, was auf ihre Zeitgenossen wie ein Zeichen des Kontakts mit der Geisterwelt gewirkt haben muss. In der Vitrine der ›Schamanin‹ werden nun auch die Neufunde aus den Nachgrabungen am Fundort im Kurpark von Bad Dürrenberg gezeigt. Herausragend sind beispielsweise 14 durchbohrte fossile Gyraulus-Schneckenhäuser von nur etwa fünf Millimetern Größe. Sie könnten zu einer Kette gehört haben, ins Haar geflochten oder auf der Kleidung aufgenäht gewesen sein und stammen aus dem Steinheimer Becken im heutigen Baden-Württemberg. Damit zeugen die filigranen Objekte nicht nur von der Fingerfertigkeit der mittelsteinzeitlichen Menschen, sondern auch von erstaunlichen Fernkontakten in der Zeit vor 9.000 Jahren.
RSS-Feeds @ Archäologie Online
- Nachrichten
- Videos
- Podcasts