Die schwierigen Lebensbedingungen in der Frühzeit der Industrialisierung

Rettungsgrabung in 150 Jahre altem Basler Spitalfriedhof

Wegen eines Leitungsbaus bergen Archäologen Gräber aus der Zeit von 1845 bis 1868 vom ehemaligen Spitalfriedhof. Die Skelette und noch vorhandene Krankenakten sind einzigartige historische Quellen zu den schwierigen Lebensbedingungen in der Zeit der Frühindustrialisierung.

Basel Birsig
Noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts leitete man Schmutzwasser und Fäkalien direkt in den Birsig, der offen durch die Innenstadt floss und damit eine gefährliche Quelle für Typhus und Cholera war. Foto: StABS BILD 3, 70

Im St. Johanns-Park wird derzeit ein Teilstück der Hochtemperaturleitung vom Fernheizkraftwerk Volta zum Universitätsspital gebaut. Von den Bauarbeiten ist auch der ehemalige Spitalfriedhof des Basler Bürgerspitals betroffen, auf dem im 19. Jahrhundert über 2500 Menschen aus der sozialen Unterschicht der Stadt bestattet worden sind. Im Rahmen einer Rettungsgrabung werden 50 bis 70 Gräber durch die Archäologische Bodenforschung in Kooperation mit der Universität Basel freigelegt und geborgen.

Da von den namentlich identifizierbaren Bestatteten die Krankenakten im Staatsarchiv erhalten geblieben sind, bietet sich die einmalige Gelegenheit in einer interdisziplinären Zusammenarbeit von Archäologen, Anthropologen und Historikern die Lebensbedingungen der Basler Unterschicht des 19. Jahrhunderts anhand persönlicher Schicksale zu rekonstruieren. Die Krankenakten und die Skelette stellen zudem eine unschätzbare Quelle zur Medizingeschichte dar.

Bereits in den Jahren 1988/1989 wurden bei den Bauarbeiten zur Anlage des heutigen Parks 1061 Gräber freigelegt, die Skelette dokumentiert und anthropologisch untersucht. Die auf dem Spitalfriedhof bestatteten Frauen und Männer waren im 1842 gegründeten Bürgerspital, dem ersten modernen Spital Basels, behandelt worden und dort verstorben. Das Bürgerspital, der Vorläufer des heutigen Universitätsspitals, war eine Auffangstation für bedürftige Menschen, die in prekären Verhältnissen am Rand der Gesellschaft lebten: Dienstboten, Wäscherinnen, Fabrikarbeiter und andere.

Die im Bürgerspital behandelten Menschen litten an chronischen Schmerzen als Folge kräftezehrender Arbeit und waren psychischen Belastungen eines oft ruhelosen Lebens unter schwierigen hygienischen Bedingungen ausgesetzt. Die Umwälzungen der französischen Revolution und die Frühindustrialisierung führten überdies zu politisch und wirtschaftlich instabilen Zeiten. Für viele bedeutete der Aufbruch in die neue Zeit den Wechsel vom Land in die Stadt und dadurch den Verlust des familiären Sicherungssystems. Zwischen 1800 und 1850 verdoppelte sich die städtische Bevölkerung von Basel auf 30.000 Personen.

Begleitausstellung zur Rettungsgrabung

Für die Öffentlichkeit wurde eine kleine Plakatausstellung in Kooperation mit dem Staatsarchiv, dem Naturhistorischen Museum, dem Verein Basler Geschichte und dem Bürgerforschungsprojekt »Basel Spitalfriedhof« realisiert. Die Ausstellung bietet die Möglichkeit einer unmittelbaren Begegnung mit berührenden Lebensschicksalen von Menschen aus der sozialen Unterschicht, die an der Wende zur Moderne lebten:
1865 wurde die Magd und Näherin Babette Sachser im Alter von gerade einmal 25 Jahren auf dem Spitalfriedhof bestattet: Sie wurde am 4. Dezember 1865 mit Kaiserschnitt von einem Kind entbunden, der erste in Basel durchgeführte und dokumentierte Kaiserschnitt. Der Eingriff verlief erfolgreich, das Kind kam gesund zur Welt. Die Mutter starb jedoch 25 Stunden nach der Geburt vermutlich an einer Lungenembolie.

Das Skelett von Babette Sachser zeigt eine Frau mit einer Körpergrösse von nur 1,22 m. Ursache ihrer Kleinwüchsigkeit ist eine angeborene oder durch Jodmangel hervorgerufene Fehlfunktion der Schilddrüse, bei der die körperliche und mentale Entwicklung verlangsamt wird. Ihr Becken war zu eng und sie hätte ihr mit 3 Kilo normal schweres Kind nicht auf natürliche Weise gebären können. Für die Ärzte im Bürgerspital war sofort klar, dass es sich um einen Notfall handelt. Das Becken von Babette Sachser fehlte bei der Bestattung. Es wurde bei der Obduktion entnommen und zu Lehrzwecken verwendet.

Die Ausstellung befindet sich im Aussenbereich und im Foyer des Pavillons im St. Johanns-Park und ist bis zum 30. April täglich von 11 bis 17 Uhr geöffnet.

Skelett einer Fabrikarbeiterin des 19. Jh.
Skelette und Krankenakten geben einen Einblick in die Gesundheits- und Lebenssituation der Basler Bevölkerung um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Obwohl Caroline Abt an einer starken Wirbelsäulenverkrümmung litt, musste sie fast bis zum letzten Tag als Fabrikarbeiterin arbeiten. Foto: Thomas Kneubühler, ABBS
Ausgrabung
Blick auf die aktuelle Ausgrabung. Studierende der Universität Basel legen unter fachkundiger Anleitung der Archäologischen Bodenforschung die ersten Skelette frei. Foto: Benedikt Wyss, ABBS
St. Johanns-Tor Basel
St. Johanns-Tor von aussen, um 1840/50. Ganz vorne links im Bild sieht man das schmiedeeiserne Eingangstor des Spitalfriedhofs St. Johann. Abb.: StABS Bild Visch. A 41
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