Das Leben am See Gennesaret
In diesem größten europäischen Grabungsprojekt in Israel, an dem in diesem Jahr 70 Studierende und Forscher aus insgesamt 14 Nationen beteiligt sind, gelang es jetzt, für die Zeitstufe Eisenzeit I (1150 - 950 v.Chr.) ein höchst differenziertes Leben der antiken Bewohner nachzuweisen, das sich von den sonstigen Ortslagen im Land völlig unterscheidet. Bislang galt diese Epoche als eine Zeit des Niedergangs. Alle großen Städte des Landes wurden um 1200/1175 v. Chr. aufgegeben und verlassen. Der Grund hierfür war vor allem der Zusammenbruch des internationalen Handels, der in dem relativ armen Gebiet der südlichen Levante vorher zu einem gewissen Wohlstand geführt hatte. An Stelle der Großstädte wie Hazor und Lachisch wurden im 12. Jh. v.Chr. kleine Dörfer im Bergland gegründet, die sich weitgehend selbst versorgten. In diesen kleinen Ortschaften sieht die derzeitige Forschung einen Kern des späteren Staates Israel, der von David und Salomo im 10. Jh. v.Chr. aufgebaut wurde.
"Angesichts der allgemeinen Fundsituation im ganzen Land stellen unsere Befunde eine kleine Sensation dar," meint Stefan Münger, einer der Grabungsleiter. "Wir werden in diesem Jahr unsere Arbeiten an den früheisenzeitlichen Schichten abschließen und können eine sehr entwickelte Stadt in dieser Epoche nachweisen." Insgesamt wurden inzwischen zwei großflächige Felder mit je etwa 1000 Quadratmeter Fläche freigelegt, die einen sehr anschaulichen Einblick in das alltägliche Leben der Stadt zur Zeit der Richter und der ersten Könige Israels und Judas bieten. "Einen Gebäudekomplex interpretieren wir als Bäckerei, denn wir haben dort allein drei Backöfen, Mühlsteine zur Getreideverarbeitung und vermutlich Getreidereste gefunden," ergänzt Münger. Auch ansonsten war das Leben hoch organisiert in dieser Stadt, die immerhin rund 10 ha groß war und in der früher rund 2500 Menschen gelebt haben dürften. In einem Haus gab es eine Olivenpresse, in einem anderen vielleicht eine Gerberei. Der Stadtplan ist außerordentlich gut geplant. Die Straßen verlaufen jeweils schräg zum Hang, um das Wasser bei Regenfällen zum See hin abzuleiten. Die massive Stadtmauer mit bis zu 12,3 m Stärke machte die Ortslage fast uneinnehmbar. Die Stadt scheint stark vom Handel gelebt zu haben, denn an Hand der Keramik lassen sich Beziehungen vor allem nach Phönizien und Syrien, aber auch nach Zypern und selbst nach Ägypten nachweisen.
"Wir haben das große Glück, dass die Stadt durch ein Erdbeben und ein damit verbundenes Feuer völlig zerstört wurde und so das tägliche Leben in der Eisenzeit I bestens konserviert ist," ergänzt Juha Pakkala, ebenfalls Grabungsleiter auf diesem Siedlungshügel. "Es gibt wohl kaum einen anderen Ort, an dem man dies so gut rekonstruieren kann wie hier. Wir sind hier in einer Zeit, in der man kaum auf Schriftfunde hoffen kann. Daher müssen wir den Alltag der Menschen allein an Hand der Funde und Befunde rekonstruieren." Diese machen es wahrscheinlich, dass die Stadt eine wichtige Rolle innerhalb der sich allmählich etablierenden aramäischen Staaten bildete und in jener Zeit nicht zu Israel gehörte. Im 10. Jh. v.Chr. wurde die Stadt dann zerstört und für mehr als hundert Jahre verlassen.
Das Kinneret Regional Project will seine Untersuchungen auf dem Siedlungshügel, aber auch in der Umgebung noch mehrere Jahre weiterführen, um die Kulturgeschichte der Region am Nordwestufer des See Gennesarets besser verstehen zu können. Hierzu gehören auch landschaftsarchäologische Untersuchungen, in denen die Großregion um den See herum untersucht wird. Diese Arbeiten werden vom Landesexzellenzcluster geocycles an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz gefördert und von Prof. Dr. Wolfgang Zwickel (Mainz) verantwortet. Neben der Weiterarbeit in Tell Kinrot sind auch kleinere Ausgrabungen an anderen Orten der Kleinregion geplant, für die vor allem Prof. Jürgen Zangenberg (Leiden) verantwortlich zeichnet. Darüber hinaus gibt es eine enge Zusammenarbeit mit naturwissenschaftlichen Institutionen in Mainz, aber auch in Haifa und Basel, um auch auf diesem Weg ein besseres Verständnis der Kulturlandschaft und der Umweltbedingungen für das Leben der Menschen in der Antike hier zu erreichen.
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