Bruchbänder und Zahnprothesen: Über 140 Gräber auf Göttinger Campusgelände archäologisch untersucht
Auf dem Friedhof wurden Menschen jeden Alters bestattet, vom Neugeborenen bis zum Greis. Nach katholischem Brauch wurden die Toten mit christlichen Beigaben wie Rosenkränzen, Kruzifixen und Heiligenbildnissen beigesetzt. Außerdem befanden sich in den Gräbern zahlreiche persönliche Gegenstände, die Aufschlüsse über die Alltagskultur des 19. Jahrhunderts geben. Die Archäologen entdeckten unter anderem Zahnprothesen, ein Bruchband, Schmuck sowie Porzellanpüppchen als Grabbeigabe für Kinder. Auch einzelne Bestandteile der Kleidung der Toten wie Hauben, Gürtel und vor allem Knöpfe sind aufgrund des Lößbodens erhalten geblieben. Zudem wurden Gegenstände gefunden, die vermutlich beim Herrichten der Verstorbenen verwendet wurden: Kämme, ein Fingerhut und eine Waschschüssel. Diese Dinge wurden anschließend offenbar als »unrein« betrachtet und vermutlich deshalb mit in die Gräber gegeben.
Die Forscher machten zudem eine überraschende Entdeckung: Insgesamt 32 Verstorbene waren nach ihrem Tod anatomisch untersucht worden. Die Archäologen fanden aufgesägte Schädel – offenbar war das Gehirn der Toten freigelegt worden – sowie abgetrennte Gliedmaßen, vermutlich zur Herstellung von Scheibenpräparaten. »Diese Funde werfen ein völlig neues Licht auf die Medizingeschichte. Im 19. Jahrhundert waren eine systematische Pathologie und Anatomie gerade erst im Entstehen begriffen«, erklärt Stadtarchäologin Betty Arndt. Die Wissenschaftler vermuten, dass die anatomischen Untersuchungen der Toten in Zusammenhang mit damaligen Forschungstätigkeiten an der Universität Göttingen stehen.
Die Grabungsergebnisse sollen nun von Experten der Anthropologie und Sepulkralforschung weiter untersucht werden. Im Anschluss an die wissenschaftliche Auswertung der Funde werden die Toten wieder beigesetzt. Die Bauarbeiten für das Lern- und Studiengebäude nördlich des Reitstalltors, in dem auf 4.000 Quadratmetern rund 750 Gruppen- und Einzelarbeitsplätze entstehen, haben im Anschluss an die Ausgrabungen begonnen.
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