Bierstadt-Nord wird erneut besiedelt
Unter der Projektleitung des städtischen Tiefbau- und Vermessungsamtes wird in Wiesbaden seit Mai 2019 das Wohngebiet »Bierstadt-Nord« erschlossen. Da Hinweise auf jahrtausendealte Siedlungsspuren im Areal vorlagen, wurden vor Baubeginn geophysikalische Messungen und eine archäologische Ausgrabung durchgeführt, um die im Boden überlieferten Zeugnisse der Bierstädter Geschichte zu dokumentieren. Dabei kam eine überraschend große Anzahl vorgeschichtlicher Siedlungsreste vor allem in der Südhälfte des zukünftigen Wohngebiets zum Vorschein.
Aus Sicht der Archäologen ist der große Fundreichtum der Siedlungshinterlassenschaften bemerkenswert, der unterschiedliche Nutzungszeiten des Geländes erkennen lässt. Die ältesten gesicherten Grabungsfunde datieren in die sogenannte »Michelsberger Kultur«, sind also zwischen 6.400 und 5.500 Jahre alt. Namensgebend für diese schriftlose Bauernkultur ist eine wichtige Grabungsstätte auf dem Michaelsberg im badischen Bruchsal. In Bierstadt wurde eine große Anzahl Vorratsgruben aus dieser Zeit freigelegt. Ursprünglich enthielten diese Gruben Getreide oder Ähnliches, wurden später dann aber zur Entsorgung von unbrauchbar gewordenen Keramikgeschirren und Steingeräten sowie weiteren Abfällen genutzt. Ungewöhnlich ist die große Anzahl der innerhalb des Baugebiets ausgegrabenen Gruben – zumeist findet man auf einem Siedlungsplatz der »Michelsberger Kultur« nur wenige davon.
Rund 3.100 bis 3.200 Jahre alt sind fünf Gräber der sogenannten »Urnenfelderkultur«. Diese spätbronzezeitliche Kulturgruppe erhielt ihren Namen wegen der für diese Zeit typischen Brandgräber-Friedhöfe. In diesen Gräbern fanden sich neben formschönen Keramikgefäßen auch Geräte aus Bronze, deren Herstellung man nun bereits seit Jahrhunderten beherrschte. Die in Bierstadt freigelegten Gräber lagen am äußersten Rand des Baugebiets und es ist zu vermuten, dass zahlreiche weitere damals beim Bau der an das neue Wohngebiet grenzenden Wohnhäuser unbeobachtet zerstört wurden.
Vergleichsweise junge Hinterlassenschaften – »nur« wenige hundert Jahre alt – stellen eine mutmaßliche Landwehr sowie möglicherweise mehrere Schächte zur Rohstoffgewinnung dar. Die während der archäologischen Untersuchung angetroffenen Siedlungshinterlassenschaften verdeutlichen, dass das Baugebiet in Bierstadt nicht erst im 21. Jahrhundert zur begehrten Wohnlage wurde. Vielmehr wussten schon die Menschen vor Jahrtausenden um die Gunstlage am Rande des seit dem 10. Jahrhundert belegten »Birgidesstat«.
Die archäologischen Arbeiten wurden auf der Grundlage des hessischen Denkmalschutzgesetzes von der Fachfirma Wissenschaftliche Baugrund-Archäologie e. V. aus Marburg unter der Leitung von Dr. Katharina Mohnike, Dr. Franka Schwellnus und Johanna Trabert durchgeführt. Als Ansprechpartner der Fachbehörde des Landesamtes für Denkmalpflege, Abteilung hessenARCHÄOLOGIE, stand Dr. Dieter Neubauer zur Verfügung. Zunächst wurden die zukünftigen Straßen- und Kanaltrassen untersucht, um Qualität und Umfang der archäologischen Hinterlassenschaften besser einschätzen zu können. Von diesen Ergebnissen ausgehend, konzentrierten sich die Ausgrabungen in der Folge auf den Südteil des Baugebiets »Bierstadt Nord«. Sie stehen nunmehr vor dem Abschluss.
»Um den Baufortschritt nicht unnötig zu behindern, arbeiteten die Archäologinnen in enger Kooperation mit dem Tiefbauamt auch im Winter, was Mensch und Material stellenweise vor große Herausforderungen stellte. Angesichts des großen wissenschaftlichen und kulturellen Gewinns, möchte ich dem Grabungsteam um Frau Dr. Mohnike im Namen der hessenARCHÄOLOGIE dafür besonders danken«, lobte der zuständige Bezirksarchäologe Dr. Dieter Neubauer vom Landesamt für Denkmalschutz die Expertinnen während eines Pressetermins.
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