Der Teppich von Bayeux
Einige neue Gedanken
Einführung: Machart und Bildprogramm des Teppichs
»Der Teppich von Bayeux ist im strengeren Sinne kein Teppich, sondern ein bestickter Leinenstreifen, bestehend aus acht aneinander gereihten Streifen verschiedener Länge, etwa 68,38 Meter lang und zwischen 45,7 und 53,6 Zentimeter hoch« (Wilson 1985, 10). Es ist anzunehmen, dass am Ende einige Szenen fehlen, vielleicht als Abschluss eine mit Wilhelm als König auf dem englischen Thron. Die Bilder wurden mit farbiger Wolle vermutlich nach Vorlagen gestickt. Vorzeichnungen sind auf dem Träger nicht zu erkennen. Der Erhaltungszustand ist erstaunlich gut; während der letzten Restaurierung wurde festgestellt, dass die Farben der Stickgarne auf Rück- und Sichtseite praktisch gleich gut erhalten waren: der Teppich war im Wesentlichen keinen die Farbstabilität nachteilig beeinflussenden Einflüssen ausgesetzt. Kleine Schäden sind im Laufe der Zeit immer wieder ausgebessert worden - ohne dass das Gesamtbild wesentlich beeinträchtigt wurde. Der Teppich (wohl eher ein überlanger Wandteppich) wurde vermutlich in der zweiten Hälfte des 11. Jh. in England angefertigt - epigraphische Einzelheiten weisen darauf hin - und erzählt als Bildgeschichte die historischen Vorgänge, beginnend mit dem Jahr 1064, um die Eroberung Englands durch Wilhelm den Eroberer und endet mit der Schilderung der Schlacht von Hastings 1066.
Er zeigt eine erstaunliche Fülle von Einzelheiten in 73 Szenen, deren nicht immer leichte Deutung viele Historiker beschäftigten. Es gibt dementsprechend eine Vielzahl von Publikationen über die verschiedensten Aspekte, überwiegend jedoch historischer Art. Den an mittelalterlicher Sachkultur interessierten Archäologen interessieren jedoch vornehmlich die vielen dargestellten Objekte wie Waffen, Schiffe, Gebrauchsgegenstände, Pferdeaufzäumungen, Kleidung, die zum großen Teil in ihrer Art, Funktion, Bauweise und Bedeutung geklärt sind.
Es bleibt jedoch ein kleiner Rest von ungeklärten Einzelheiten, deren Deutung strittig oder völlig unklar ist. Hierbei ist natürlich wie auch beim Lesen bebilderter mittelalterlicher Handschriften zu berücksichtigen, dass sich bei der Herstellung Fehler eingeschlichen haben können: im vorliegenden Fall wird man insbesondere von den Stickerinnen keine Sachkunde erwarten können, so dass sie (vielleicht auch schon fehlerhafte) Vorlagen falsch interpretierten und fehlerhaft wiedergaben.
Dem Autor dieser Arbeit, Mittelalterarchäologe, fielen bei der Beschäftigung mit dieser einzigartigen Datenquelle insbesondere einige Einzelheiten auf, die seines Erachtens und Wissens unbefriedigend erklärt werden und zu denen er neue Deutungsvorschläge machen will. Die Grundlage seiner Arbeit bildet die sehr schöne Veröffentlichung des Teppichs von Wilson (1985). Zunächst soll auf zwei Einzelheiten in den Szenen 4 und 46 (Abbildungen 1 und 2) eingegangen werden.
Die bei Gibbs-Smith (1965, 176; 183) gegebenen Deutungen erscheinen wenig plausibel: Das doppelt gewinkelte Objekt in Szene 4 wird als »possibly a leach, certainly not a boomerang« interpretiert, das kranzförmige Objekt in Szene 46 als »boulder« in Anlehnung an ein englisches Manuskript, der Psychomachia des Prudentius aus dem 11. Jh. Die hierin dargestellte ähnlich gezeichnete Person, eine Personifikation der Arbeit, soll als Vorbild gedient haben - eine Deutung mit einer gewissen Berechtigung, wenn man eine Verzeichnung des Objekts auf dem Teppich annimmt. Die drei konzentrischen Kreise und die Durchsichtigkeit sprechen jedenfalls nicht für einen Fels.
Diese beiden fraglichen Objekte sollen im Folgenden in ihrem bildlichen Kontext betrachtet und gedeutet werden.
Das doppelt gewinkelte Objekt in Szene 4
Szene 4 zeigt das Einschiffen von Harold (noch nicht König, mit dem Falken in der Hand) in Begleitung seiner Mannschaft zu seiner dem Grunde nach ungeklärten Überfahrt in die Normandie. Das fragliche Objekt wird in der Bildmitte von einem Mann in der linken erhobenen Hand getragen und unterscheidet sich in der Farbe von dem in der anderen Hand getragenen Riemen (umgangssprachlich falsch »Ruder« genannt). Es könnte also nicht aus Holz bestehen, sondern aus einem anderen Material, vielleicht aus Eisen. Allerdings muss bemerkt werden, dass der Riemen in der Hand des daneben gehenden Mannes im oberen Teil ebenfalls diese Farbe zeigt, so dass diese Deutung nicht ganz schlüssig ist. Völlig rätselhaft ist jedoch die Form. Wilson (1985, 175) weist auf ein hakenförmiges Parallelobjekt aus Eisen hin, das sich in einem Wikinger-Schiffsgrab (Datierung 2. Hälfte 10. Jh.) auf der Île de Groix fand und von Müller-Wille (1978) publiziert wurde (Abbildung 4).
Verf. schlägt vor, in diesem Objekt einen Bootshaken zu sehen. Das rechts neben dem gekrümmten Teilstück gezeigte Fragment wird von Müller-Wille als »Tülle« bezeichnet. Es ist teilweise hohl und trägt auf jeder Seite 5 Löcher, durch die Bronzenägel gingen. Müller-Wille spricht von Ziernägeln. Verf. sieht darin Befestigungsnägel, die die Tülle auf einem Holzstiel befestigten. Die Bruchflächen passen allerdings nur leidlich aufeinander, was jedoch angesichts der Korrosion verständlich ist. Die Annahme, dass beide Fragmente zusammengehören und mit einem (vergangenen) Holzstiel einen Bootshaken darstellten, erscheint gerechtfertigt. Solche Haken dienen zum Festhalten eines Bootes oder Schiffes an einem anderen, längsseits liegenden Schiff/Boot oder am Landungssteg zum Ein-, Um- oder Aussteigen, können jedoch auch als Enterhaken oder Waffe verwendet werden. Sie gehören heute noch zur üblichen Schiffs- oder Bootsausrüstung.
Auch im Falle der Abbildung auf dem Teppich ist die vorgeschlagene Deutung als Bootshaken gut mit dem Kontext der Einschiffung in Einklang zu bringen. Die Abbildung ist entweder etwas verzeichnet oder sie zeigt einen sehr kurzen Bootshaken (ähnlich einem Enterhaken) ohne zerbrechlichen Holzstiel. Er wird zusammen mit den Riemen als Ausrüstung zu den Schiffen getragen.
Das kranzförmige Objekt in Szene 46
Wilson beschreibt die Szenen 45 und 46 (Abbildung 5) als Anlegen eines Basislagers bei Hastings, wobei die Vorräte in kriegsüblicher Weise durch Plünderung der Gegend beschafft wurden. Ein Mann rechts im Bild trägt ein kranzförmiges Gebilde auf der Schulter, das zu verschiedenen Deutungen Anlass gab. Verf. schlägt vor, in diesem Objekt eine Wiede (Abbildung 6) zu sehen, wie sie im Mittelalter für die Flößerei im Schwarzwald hergestellt wurde.
Im Kurpark der Gemeinde Enzklösterle (Landkreis Calw, Nordschwarzwald) ist der Nachbau eines mittelalterlichen Floßes zusammen mit einer Informationstafel über die Herstellung von Wieden ausgestellt. Die Wieden wurden aus jungen Stämmen von Weißtanne, Fichte, Birke, Eiche, Salweide oder Haselnuss (4-7 m lang, etwa 5 cm Durchmesser) hergestellt. Dazu wurden die gewässerten Stämme im Wiedofen bei 300 °C »gebäht«, bis der Saft kocht und die Stämme flexibel werden. Durch Winden um den Wiedpfahl wurden diese Stangen in eine spiralige Form gebracht, die zu Kränzen nach Stärke gebündelt trocken gelagert wurden. Vor Gebrauch zum Floßeinbinden wurden die Wieden zwei Tage lang gewässert. Sie stellen außerordentlich feste und haltbare »Holzseile« dar, die die harten Anforderungen beim Flößen erfüllen. Abbildung 7 zeigt, wie die einzelnen Baumstämme eines Floßes mit Wieden zusammengebunden wurden.
Man kann sich vorstellen, dass solche im trockenen Zustand recht steife Wieden auch im mittelalterlichen Schiffbau verwendet, vielleicht als Reparaturmaterial gelagert und mitgeführt wurden. Im Falle des Teppichs erscheint die Annahme denkbar, dass ein Mann auf seiner Schulter ringförmige Wieden als Ausrüstungs- oder Reparaturmaterial für die Schiffe in das Lager Hastings bringt.
Man könnte auch an ein aufgerolltes steifes, dickes Tau denken; allerdings scheint diese Interpretation weniger der Zeichnung zu entsprechen.
Abbildung anderer ringförmiger Objekte auf dem Teppich
Bei genauer Betrachtung vieler auf dem Teppich abgebildeter Schiffe sind am Topp (dem oberen Ende) der Maste ringförmige Objekte zu erkennen. Es wäre falsch, auch in ihnen Wieden zu sehen. Es handelt sich hierbei um Heissringe, durch die das Fall (das Tau zum Heissen (Heraufziehen) der Rah mit dem Segel) geführt ist. Auch sind an ihnen die Wanten und Stage (Leinen, die den Mast verspannen) befestigt. Auf diese Heissringe wirken erhebliche Kräfte, die von Ringen aus Wieden nicht aufgenommen werden können. Sie müssen vielmehr aus einem Metall, sicherlich Eisen, hergestellt sein. Beispielhaft zeigen beide in Szene 40 gezeigten großen Schiffe am Topp der Maste diese Ringe (Abbildung 8).
Abbildung 9 gibt in einer Ausschnittvergrößerung den Masttopp des rechten Schiffes wieder. Der Ring und die auf ihn zu laufenden Wanten und Stage sind deutlich zu erkennen; das Fall ist allerdings ebenso wie die Befestigung am Masttopp nicht eingezeichnet. Lediglich die Flagge ist zu sehen. Es zeigt sich, dass viele Einzelheiten genau wiedergegeben sind, andere dagegen fehlen.
Eine Landungsszene
Die Szene der Landung Haralds in der Normandie wird in der für die Darstellungen auf dem Teppich typischen zeitlich gerafften, zusammengefassten Form in Szene 6 gezeigt. Das Schiff fährt noch unter vollem Segel, ein Mann sitzt als Ausguck an der Mastspitze, vier Seeleute stehen zum Reffen des Segels bereit, ein Mann steht am Mast bereit zum Umlegen, ein anderer ist bereit zum Werfen des Ankers, zwei Mann betätigen zwei Riemen, ein weiterer hat eine Vorrichtung mit einer Leine in der Hand. Nach Wilson könnte es sich hierbei um einen Angler handeln, der die Anglerschnur in der Hand hält. Diese allerdings mit einem Fragezeichen versehene Interpretation ist mit Sicherheit abzulehnen, das Angeln gehört nicht zu den üblichen Tätigkeiten während eines Landemanövers. Es handelt sich vielmehr um den äußerst genau dargestellten Vorgang des Lotens der Fahrwassertiefe. Das Handlot an der Lotleine wird während der Fahrt von einem Mann voraus geworfen und dann während der Fahrt vorsichtig eingeholt, bis die Lotleine senkrecht zur Wasseroberfläche steht. An den Markierungen auf der Leine (hier nicht dargestellt) kann dann die Wassertiefe abgelesen werden.
Schluss
Die Deutungen von bisher unklaren Objekten erfolgten in üblicher Weise durch Vergleiche mit ähnlichen Objekten unter Beachtung der bildlichen Kontexte. Sie erscheinen gerechtfertigt, auch wenn sie nicht streng bewiesen werden können.
Zusammenfassung
Der Teppich von Bayeux beschreibt die Geschichte der Eroberung Englands durch Wilhelm den Eroberer in den Jahren 1064 bis 1066 in Form einer Bildgeschichte. Sie zeigt 73 Szenen dieser damaligen Ereignisse, von denen die meisten in ihrer Bedeutung geklärt sind. Auch die meisten Objekte der Sachkultur sind in ihrer Bedeutung bzw. Funktion geklärt bis auf einige Ausnahmen: die haken- und kranzförmigen Objekte, die Heissringe und die »Angelschnur«. Der Autor schlägt für sie neue Deutungen bzw. Ergänzungen vor.
Der Haken und ein in der Literatur beschriebener Parallelfund aus dem Schiffsgrab von der Île de Groix werden als Bootshaken mit oder ohne hölzernen Stiel interpretiert. Solch ein Bootshaken wird zusammen mit den Riemen bei Haralds Einschiffung zu dem Schiff gebracht worden sein.
Das kranzförmige Objekt wird als Wiede angesehen, ein aufgerolltes Holzseil. Diese Wieden sind extrem fest und dienten im mittelalterlichen Schwarzwald dem Zusammenbinden der Baumstämme zu Flössen. Sie wurden hergestellt, indem junge, dünne Baumstämmchen nach einem Wässerungsprozess in einem speziellen Ofen auf 300 °C erhitzt wurden. Die danach flexiblen »Holzseile« wurden kranzähnlich zusammengerollt. Sie waren nach dem Trocknen steif genug, um gut getragen und nach erneutem Wässern flexibel genug, um wie Seile verarbeitet werden zu können. Es erscheint vorstellbar, dass solche Holzseile auch beim Schiffsbau und bei Reparaturen verwendet wurden. Sie mögen als Ersatzteile in Wilhelms Basislager in Hastings gelagert worden sein. Sie sind steif genug, um - wie auf dem Teppich gezeigt - als Rolle senkrecht auf der Schulter eines Mannes getragen werden zu können. Eine Interpretation als Rolle eines steifen Taues erscheint auf Grund der Zeichnung weniger wahrscheinlich.
Die an den Toppen der Maste vieler Schiffe gezeigten Ringe sind Heissringe. Sie führen das Fall (Tau) zum Heissen (Hochziehen) der Rah mit dem Segel und halten die Wanten und Stage zum Verspannen des Mastes. Sie können keine Wieden sein, da diese den extremen Beanspruchungen dieser Ringe nicht gewachsen wären. Sie werden vielmehr aus einem Metall, sicherlich Eisen, hergestellt sein. Die Befestigung am Mast und die an ihnen befestigten Seile und Taue sind nicht dargestellt.
Die bei Wilson als Angelschnur (allerdings mit Fragezeichen) bezeichnete Leine in Szene 6 wird als Lotleine identifiziert.
Dank & Literatur
Dank
Verf. bedankt sich bei Dr. William Stewart, Gärtringen, vielmals für die sachkundige Durchsicht.
Literatur
Gemeinde Enzklösterle 2014
Nachbau eines Floßes, zusammen mit einer Info-Tafel über die Wiedenherstellung im Kurpark.
Gibbs-Smith 1965
Charles H. Gibbs-Smith, Notes on the Plates, in: Frank Stenton (Hrsg.), The Bayeux Tapestry, London 1965, 174-188.
Müller-Wille 1978
Michael Müller-Wille, Das Schiffsgrab von der Île der Groix (Bretagne), in: Kurt Schietzel (Hrsg.), Bericht über die Ausgrabungen in Haithabu 12, Neumünster 1978, 48-84.
Wilson 1985
David M. Wilson, Der Teppich von Bayeux, Ullstein Frankfurt am Main und Berlin 1985. Deutsche Ausgabe Propyläen Verlag.