Glashandwerker im Frühmittelalter
Glas ist ein Produkt, das aus gewöhnlichem Sand bei etwa 1700 °C erschmolzen werden kann. Da solche Temperaturen bis in die Neuzeit hinein nicht kontrolliert zu erzeugen waren, nutzte und nutzt man zusätzlich sogenannte Flussmittel, die die Schmelztemperatur senken, sowie als dritten Bestandteil einen sogenannten Stabilisator – im Allgemeinen Kalk - , der das molekulare Netzwerk des Glases stärkt.
Von den historischen Flussmitteln sind insbesondere zu nennen:
- Die seit über 4000 Jahren verwendete, sodahaltige Asche von Meeres- oder Wüstenpflanzen, sogenannten Halophyten, die bis heute ununterbrochen im Mittleren Osten im Gebrauch ist.
- Die im frühen ersten Jahrtausend v.u.Z. eingeführte und insbesondere im klassischen Römischen Reich verwendete mineralische Soda aus Ägypten.
- Die Holzasche der mitteleuropäischen Pflanzenarten Buche, Eiche und Farn, die erstmals in Funden aus der 776 oder 777 erbauten Königspfalz Karls des Großen in Paderborn nachgewiesen ist; sie stellt eine Anpassung des alten, orientalischen Glasrezeptes an europäische Verhältnisse dar.
Zur Herstellung von Glas müssen Sand, Flussmittel und Stabilisator in einem festen Verhältnis gemischt werden; dies war die Aufgabe eines Glasschmelzers, der bis in die Zeit des Hochmittelalters hinein die Glasmasse in riesigen Öfen zu erschmelzen hatte. Das hierin erzeugte Glas wurde zerkleinert und ging anschließend an lokal ansässige Sekundärglashütten, die bei gemäßigten Temperaturen die Glasbröckchen erneut einschmolzen, um sie zu Hohl- oder Flachglasprodukten zu verarbeiten. Diese zweigeteilte Produktionsweise war im Römischen Reich Stand der Technik; sie führte zu einer leichten Verfügbarkeit des Rohglases auf den Märkten und war somit stoffliche Grundlage für einen zum großen Teil selbstbewussten und freien Handwerkerstand, der selbst filigrane Diatretgläser herzustellen wusste, wobei dem zuständigen Handwerker bei der Ausführung dieser Arbeit vom Gesetz Haftungsausschluss zugestanden wurde.
Unter den Glashandwerkern gab es auch Frauen, deren bekannteste Vertreterin die Glasmacherin Sentia Secunda ist; sie profitierte wie ihre Geschlechtsgenossinnen von einer Entwicklung des Römischen Rechts, das in der Spätantike keinen wirklichen Grund mehr dafür sah, dass Frauen nur unter einem Vormund geschäftsfähig sein sollten.
Ein weiteres Gesetz regelte im vierten Jahrhundert, dass Glashandwerker, die als Selbständige auch steuerpflichtig waren, nicht mehr zu öffentlichen Aufgaben in ihren Städten herangezogen werden durften, wenn sie dort verblieben, sich fortbildeten und ihre Kinder in ihrem Handwerk unterrichteten.
Auch nach dem Rückzug des Römischen Reiches aus Mitteleuropa muss es dort selbständige und wohl auch freie Glashandwerker gegeben haben, die bis ins fünfte oder frühe sechste Jahrhundert hinein auf im Rheinland erzeugtes Rohglas zurückgreifen konnten.
Ihre Freiheit ist sehr gut an einer zeitgenössischen historischen Quelle abzulesen. Darin bittet im Jahr 764 ein englischer Abt seinen in Mainz als Bischof residierenden Landsmann, er möge doch, falls er einen Glasmacher in seiner Diözese kenne, diesen nach England schicken:
"Ich ersuche Dich, dass Du meine dringende Bitte nicht abweist. Sollte irgendein Mann in Deiner Diözese leben, der sich gut darauf versteht gläserne Gefäße herzustellen, so wollest Du ihn freundlicherweise zu mir schicken, wie es die Zeit zulässt. Oder wenn vielleicht so jemand außerhalb Deiner Diözese unter eines anderen Herrschaft lebt, so bitte ich Dich brüderlich, ihn zu überreden, dass er zu uns komme, da wir in dieser Kunst ohne jede Kenntnis und unerfahren sind. Und wenn es hoffentlich glückt, dass irgendein Glasmacher auf Grund Deiner Fürsorge und mit Gottes Willen zu uns gelangt, so will ich ihm mit freundlichem Entgegenkommen zu einem angenehmen Leben aufnehmen"
S. Bonifatii et Lulli Epistola 116, ed. Dümmler in: MG EE 3, S. 406; nach der Übersetzung in: Nonn, Quellen zur Alltagsgeschichte 2 [= FSGA 40b], S. 85.
Bemerkenswert ist an dieser Quelle die Wortwahl: so möge der Mainzer Bischof, falls er nur einen Glasmacher von außerhalb seiner Diözese auftreiben könne, ihn zu der Englandreise überreden. Wäre dieser Glasmacher in irgendeiner Form an einen Herrn gebunden gewesen, so hätte der Bischof mit diesem Schutzherrn verhandeln müssen. Davon ging der englische Abt aber nicht aus.
Aus dem Frühmittelalter stammt die älteste Bleiverglasung, die in Europa überliefert ist. Zu ihr kennen wir sogar die Geschichte, denn im späten siebten Jahrhundert schickte der Abt Benedict Biscop aus dem nordenglischen Doppelkloster Jarrow-Wearmouth Gesandte nach Gallien, um Glasmacher zu bekommen, die Bleiverglasungen für die neu errichteten Gebäude herstellen konnten. Offensichtlich trafen sie dort auf Fachleute, die gerade eine Kirche in Nordgallien einglasten. In der Biografie Abt Benedicts heißt es:
"Als nächstes schickte er, um das Werk vollenden zu können, Gesandte nach Gallien, die Glasmacher herbeiholen sollten, um die Fenster der Kirche, der Säulengänge und der Speisesäle zu verschließen, denn auf diesem Gebiet hatten die Briten keine Handwerker. So geschah es, und sie kamen und vollendeten nicht nur die verlangte Arbeit, sondern sie zeigten und lehrten daraus auch dem Stamm der Angeln das derartige Handwerk; ein Handwerk allerdings, womit bekanntermaßen das Kirchenlicht eingeschlossen werden kann oder das zur vielfältigen Herstellung von Gefäßen dient"
Beda, Historia abbatum I, 5, ed. Plummer, S. 368.
Dass man in Gallien Bleiverglasungen herstellen konnte, zeigt der Fund von Überresten einer Bleiverglasung, die 1999 und 2000 in einer bei Rouen liegenden Kirche entdeckt wurden. Sie stammen aus dem siebten Jahrhundert und werden mit den von Abt Benedict Biscop nach England abgeworbenen Glasmachern in Verbindung gebracht. Dort hatte man im Jahre 1973 bei archäologischen Ausgrabungen Glasreste gefunden, aus denen offensichtlich diese gallischen Spezialisten die in England gewünschten Bleiverglasungen hergestellt hatten; die Glasreste waren allerdings lose im Boden verstreut und ohne die verbindenden Bleiruten. Bemerkenswert ist, dass hier Glas verarbeitet wurde, das von seiner Zusammensetzung her aller Wahrscheinlichkeit nach aus der Levante oder aus Ägypten stammte. Die Auftraggeber der Bleiverglasungen oder die Handwerker selbst müssen also über Handelsbeziehungen in den östlichen Mittelmeerraum verfügt haben; vielleicht stammten Letztere auch aus diesen Regionen.
Die aus dieser Zeit überlieferten Glasmacher waren Spezialisten, denn in den Quellen werden sie nicht einfach mit der alten römischen Berufsbezeichnung "vitrearii" bezeichnet, sondern sehr präzise als Hohlglasmacher (homines, qui vitrea vasa bene possint facere) oder als "vitri factores ad cancellandas fenestras" - "Glasmacher, die ein gitterartiges Fenster", also eine Bleiverglasung herstellen konnten. Die Orte, an denen sie angefordert wurden, waren das Bistum Mainz und seine Nachbardiözesen oder Gallien. Hier scheint also das römische Glasmacherhandwerk in der nachrömischen Zeit überlebt zu haben, wobei man sich diese Handwerker durchaus noch als selbstständige und freie Unternehmer vorstellen kann, die allerdings aufgrund ihrer Spezialisierung auch auf weit entfernten Baustellen arbeiten mussten.
Die weitreichende Mobilität, die den Glasmachern abverlangt wurde, existierte auch unter Karl dem Großen (747-814), denn die für seinen Aachener Palastbau angeworbenen Handwerker – unter denen sich auch ein Fachmann befand, der "in allen Metall- und Glasarbeiten die anderen übertraf" - stammten nach einer Quelle des späten neunten Jahrhunderts "von allen Ländern diesseits des Meeres", womit wahrscheinlich das Mittelmeer gemeint ist:
"Als der tatkräftige Kaiser Karl einige Ruhe finden konnte, wollte er nicht in der Muße erschlaffen, sondern sich für den Dienst Gottes einsetzen, sodass er sich daran machte nach eigenem Plan in seinem Heimatland eine Kirche zu erbauen, herrlicher als die alten Werke der Römer, und sich auch in kurzer Zeit am Ziel seiner Wünsche zu sein freute. Zu diesem Bau berief er von allen Ländern diesseits des Meeres die Meister und Handwerker aller Künste dieser Art zusammen"
Notkeri gesta Karoli I, 28.
Über deren möglichen Rechtsstand gibt dieselbe Quelle indirekt Auskunft: Demnach vertraute Karl die Bauleitung in seiner Abwesenheit einem fachkundigen, aber betrügerischen Abt an:
"Sobald sich der Kaiser irgendwohin entfernt hatte, entließ dieser jeden, der wollte, gegen Bezahlung nach Hause, aber diejenigen, welche sich nicht freikaufen konnten oder von ihrem Herrn nicht ausgelöst wurden, die bedrückte er mit maßlosen Arbeiten..."
Notkeri gesta Karoli I, 28.
Es gab hier also auch freie Arbeiter, die über sich selbst verfügen und sich freikaufen konnten.
Ab der Zeit Karls des Großen, also nach ca. 800 n.u.Z., zeigt sich allerdings eine neue Tendenz im Leben der Glashandwerker: Sie tauchen nun fast nur noch in abhängiger Stellung als Sklaven, Mönche oder Hörige auf. Zunächst trifft man auf einen Glasmacher Kaiser Ludwigs des Frommen, der als Sklave oder Knecht bezeichnet wird:
"Er" (Ludwig der Fromme) "pflegte auch zu jeder Zeit, nicht aus irgend einem Bedürfnis, sondern wegen der Möglichkeit des Schenkens an jedem Sonnabend ein Bad zu nehmen, und alles, was er ablegte, außer dem Schwert und dem Wehrgehänge, seinen Dienern zu geben. Diese seine Freigebigkeit kam selbst den Niedersten zugute, sodass er dem Glasmacher Stracholf, einem Sklaven (servus) von Sankt Gallen, der ihm damals diente, seinen ganzen Anzug geben ließ. Als herumstreifende Vasallen der Krieger das erfuhren, legten sie ihm am Wege einen Hinterhalt und wollten ihm den Anzug abnehmen. Auf seinen Ausruf: 'Was macht ihr da? Ihr tut ja dem Glasmacher des Kaisers Gewalt an!' erwiderten sie: 'Deine Tätigkeit magst du behalten, was sich aber außerhalb deiner Tätigkeit befindet, das wollen wir haben'"
Notkeri gesta Karoli II, 22.
Ein weiteres Beispiel stammt aus einem Brief, den wahrscheinlich der Corveyer Abt Warin im Jahr 839 an den Abt von Reichenau geschickt hatte:
"Derweil erflehen wir dringend euer reichliches Wohlwollen, dass ihr uns, wenn es irgendwie möglich ist, zusammen mit dem Überbringer dieser Seite den Glasmacher Matheus schickt, damit er unseren Kindern zeigt, wie für die Vitusbasilika die besten Fenster herzustellen sind; schon nach einer Woche kann er wieder zurückkommen"
Formulae Augienses, Coll. C 13, ed. Zeumer in: MG Form., S. 370.
Matheus war nach den Reichenauer Mönchslisten ein "Diakon", d.h. er hatte neben seiner Handwerkertätigkeit auch im Gottesdienst Aufgaben zu übernehmen. Durch sein Gelübde war er an das Kloster, das heißt an seinen Abt gebunden.
864 ordnete der westfränkische König Karl der Kahle die Besitzverhältnisse in der flandrischen Abtei St. Amand. Hierbei teilte er einem Hof (mansus) mit dem dazugehörigen Glasmacher Baldrich sowie einer Hofhälfte (mansus dimidium) samt dem dazugehörigen Glasmacher Ragenulf nebst Frau und Kindern die Aufgabe zu, für den Beleuchtungsdienst und die restliche Ausstattung der Klosterkirche zu sorgen. Bemerkenswert ist hier die Formulierung, wonach ein Stück bebautes Land zusammen mit den "dazugehörigen" Glasmachern zugeteilt werden sollten (Urkunden Karls des Kahlen, ed. Tessier in: Chart. et dipl. 8 B, t. II, 273, S. 113f.).
Man erkennt die abhängige Stellung der Glasmacher, die aus diesen Quellen abzulesen ist, und doch war ihr Handwerk gesucht, denn Glas war ein nur selten verwendeter Baustoff.
Um 885 fertigte die Äbtissin Bertha aus der Züricher Fraumünsterabtei Glasmalereien an:
"sie ließ ein schönes Gotteshaus mit gleichmäßigen Säulen und hohen Wandgemälden errichten; darauf bemalte sie mit künstlerischem Geschick und Stil die Fensterflächen, die Zimmerdecke und den Fußboden mit Farbpigmenten, die sie sich aus allen Himmelsrichtungen hatte kommen lassen, damit es so übertroffen werden würde gleichwie einfachem Gras, das erst eine bunte Blumenpracht gefällig macht"
Sylloga codicis sangallensis CCCLXXXI, Appendix, ed. Winterfeld in: MG PP 4,1, S. 335f.
Reste dieser bemalten Glasfenster wurden bei einer Rettungsgrabung 1981-83 gefunden, wobei allerdings über die noch erhaltenen Scherben keine Vorstellung mehr über das Bild zu gewinnen ist, das hier dargestellt war. Bertha ist nicht nur die einzig bekannte, freie Person, die Glas bearbeitete, sondern auch eine der wenigen aus dem Frühmittelalter überlieferten Frauen, die ein Handwerk ausübten. Die ersten professionellen Glasmalerinnen sind allerdings erst durch eine Pariser Steuerrolle aus dem dreizehnten Jahrhundert nachgewiesen.
Um die Jahrtausendwende taucht in der Geschichte ein bayrischer Graf A. – wahrscheinlich Graf Arnold von Rott und Vohburg aus der Familie der Pilgrimiden – auf, der dem Kloster Tegernsee Bleiverglasungen schenkte und offenbar auch soweit mit dem Glashandwerk vertraut war, dass er eine entsprechende Ausbildung der Klosterangehörigen gleich mit übernahm. So schrieb ihm der Abt von Tegernsee:
"Dem würdigsten Grafen A. der Ruhm der vielfältigsten Tugenden zur allgemeinen Bekanntmachung von Abt G." (Gozpert) "und dem Konvent der ihm unterstellten Brüder die emsigsten Gebete und Gott zum Gruß. (...) Mit Recht beten wir zu Gott für Euch, denn Ihr habt unser Kloster mit solchen Ehrengeschenken ausgezeichnet, wie wir es weder aus den Zeiten der Alten kennen noch selbst zu sehen hoffen durften. Die Fenster unserer Kirche waren bis jetzt mit alten Tüchern geschlossen gewesen. In Euren glückseligen Zeiten hat zum ersten Mal die goldhaarige Sonne den Boden unserer Kirche durch vielfarbige Glasgemälde angestrahlt (...). Wo in der Welt findet man einen solchen Ort, an dem derartiger Schmuck wahrgenommen werden kann? (...) Wir überlassen es Eurer Erwägung die Burschen zu prüfen, ob sie bis jetzt in dieser Arbeit so weit unterrichtet sind, dass es Euch zur Ehre gereicht und wie es für uns notwendig ist; und falls Ihr bei ihnen einen Mangel entdeckt, so sei es erlaubt Euch dieselben zur besseren Ausbildung zurückzuschicken. Lebt wohl"
MG Epp. sel. 3, ed. Strecker, Br. 24, S. 25f.
Es erscheint etwas merkwürdig, dass ein einfacher Landgraf Glasmacher beschäftigte, die Bleiverglasungen anfertigen konnten, denn die entsprechende Nachfrage dürfte in seiner Grundherrschaft kaum so umfangreich gewesen sein, dass er Interesse am Durchfüttern eines entsprechend fachkundigen Handwerkers haben konnte. Sollte allerdings Graf A. tatsächlich Arnold von Rott und Vohburg gewesen sein, so war er der Neffe des Passauer Bischofs Pilgrim II., der im späten zehnten Jahrhundert versucht hatte, sein Bistum mittels gefälschter Dokumente aus der Salzburger Kirchenprovinz herauszulösen und einen donauländischen Kirchenverband mit Passau als Metropole zu schaffen. Einem solch umtriebigen Kirchenmann traut man eher die Beschäftigung von Glasmachern zu, die Bleiverglasungen anzufertigen wussten, und nachdem seine Pläne mit seinem Tod 991 gescheitert waren, könnte Neffe Arnold die Handwerker übernommen haben, da er ja – wie der Tegernseer Abt schreibt – soweit mit dieser Handwerkskunst vertraut war, dass er die Qualität der darin unterrichteten Klosterangehörigen durchaus beurteilen konnte. Wie einige der erhaltenen späteren Briefe aus dem Kloster Tegernsee zeigen, gab es dann um das Jahr 1000 in Bayern eine rege Nachfrage nach Flachglas. Von den "vielfarbigen Glasgemälden" ist leider nichts überliefert.
Verallgemeinert man die aus den historischen und archäologischen Quellen gewonnenen Erkenntnisse, so kommt man zu dem Schluss, dass es bis etwa zum Jahre 800 n.u.Z.
- besondere Glasspezialisten aus Gallien, dem Rheinland und Südeuropa gab, die als vermutlich freie „Gastarbeiter" zu den Baustellen wanderten;
- seit der Karolingerzeit, also nach ca. 800, Glasmacher als rechtlose Sklaven, an ihr Kloster gebundene Mönche, einem Bischof oder Grafen gehörende Handwerker oder samt Frau und Kindern als Anhängsel an ein Stück Land überliefert werden. Die Glasmalereien der Äbtissin Bertha waren dagegen sicherlich Berufung oder Hobby und kein Beruf.
Die Glashandwerker des fränkischen Reiches befanden sich also spätestens seit der Karolingerzeit in einer abhängigen Stellung, was umso bemerkenswerter ist, als gerade damals die Glasherstellung mit der Einführung des Holzascheglases von Rohstoffimporten aus dem östlichen Mittelmeerraum unabhängig wurde.
Völlig unklar und daher Gegenstand einer historischen Spekulation ist nun die Frage, wie und von wem in Europa das neue Holzascheglas entdeckt wurde. Grundsätzlich ist kaum davon auszugehen, dass einer der herrschenden Fürsten, Bischöfe oder Äbte ein Technikzentrum für Grundlagenforschung einrichtete, um neue Glasarten zu entwickeln, die das einheimische Glasgewerbe von Importen unabhängig machen sollte. Die Entdeckung scheint eher zufällig entstanden zu sein, denn bei der Analyse der im späten achten, im neunten und im zehnten Jahrhundert entstandenen Gläser zeigt sich eine starke Variabilität in der Zusammensetzung. Dies bedeutet allerdings, dass es einen oder mehrere Glasspezialisten gegeben haben muss, die eine Idee hatten, wie das Rezept für die Rohstoffmischung – der sogenannte Gemengesatz – ungefähr aussah. Solche Fachleute mussten von außerhalb Europas aus Gegenden kommen, in denen traditionell die Kenntnis der Glasherstellung nie verloren gegangen war, und das war der Orient.
Der fachkundige Glasschmelzer könnte aus dem Byzantinischen Reich kommen. Für diese These spricht, dass unmittelbar vor dem archäologisch nachgewiesenen ersten Auftauchen von Holzascheglas 778 im Frankenreich der fränkische Herrscher Karl der Große das dem Byzantinischen Reich unmittelbar benachbarte Langobardenreich in Italien übernommen hatte. Der erfahrene Glasschmelzer wäre dann mit den Großen des Fränkischen Reiches, die Glas schätzten, unter Zwang oder durch Abwerbung mitgekommen. Die im Orient und in Italien, wo genauso wie im Orient die als Flussmittel dienenden Halophyten wachsen, gewonnenen Erfahrungen ausbauend, hätte er dann in Mitteleuropa mit seiner anders gearteten Flora neue Pflanzensorten ausprobiert, von denen sich schließlich Buchenholz sowie in Gallien und später in England auch Farn bewährten. Bei diesen Versuchen entstand ein Glas mit relativ unterschiedlichen chemischen Bestandteilen, daneben wurden in einige Gemenge weiterhin Altglasscherben zugegeben, weshalb seit dieser Zeit in Mitteleuropa wie auch in Italien das Vorkommen von Mischgläsern nachweisbar ist. Diese These geht von einem mobilen Glasschmelzer aus, der sich zur Zeit der Machtübernahme Karls in Italien aufhielt und der von den fränkischen Großen für so bedeutsam gehalten wurde, dass sie Interesse an seinen Kenntnissen zeigten und ihn nach Mitteleuropa mitnehmen konnten.
Geschah seine Abwerbung aber nicht über Italien, sondern direkt aus dem Orient, so käme eine höhere Ebene ins Spiel; die Anwerbung dieses Handwerkers hätte entweder im kirchlichen Bereich zum Beispiel zwischen zwei befreundeten Bischöfen oder direkt zwischen den führenden Herrscherhäusern stattgefunden.
Auch wenn gerade im Rahmen von Pilgerreisen kirchliche Kontakte zwischen Ost und West nachgewiesen sind, so zeigt sich in den wenigen hiervon überlieferten Berichten, dass die Vertreter westlicher Kirchen auf großes Misstrauen bei den islamischen Herrschern stoßen konnten. Es erscheint unwahrscheinlich, dass unter diesen Voraussetzungen der Wunsch nach Überlassung eines Glasschmelzers erfüllt wurde, denn dessen Wissen war selten und diente als Grundlage eines Handwerkerstandes, der nicht nur einfache Haushaltswaren, sondern auch kostbare Repräsentationsgegenstände und Geschenke herzustellen hatte. Derartige Fachleute wurden wohl nicht ohne weiteres in fremde Hände gegeben, vor allem dann nicht, wenn es sich um Funktionäre einer konkurrierenden Religionsgemeinschaft handelte.
Zu den Ost-West-Kontakten der weltlichen Herrscherhäuser ist allerdings unter den Karolingern ein wechselseitiger Austausch zweier Gesandtschaften zwischen Pippin III. und dem in Bagdad residierenden Kalifen al-Mansūr nachgewiesen; dieser dauerte zusammen mit dem Gegenbesuch von 765 bis 768 und würde daher chronologisch in das Zeitschema passen. Das Interesse des arabischen Kalifen al-Mansūr an einem diplomatischen Kontakt mit Pippin könnte in gleichgerichteten außenpolitischen Interessen begründet sein: Unter seiner Regierung war im Jahr 763 der Versuch gescheitert, das spanische Herrscherhaus der Omayyaden zu stürzen. Da auch Pippin deren Gegner war und wie al-Mansūr Konflikte mit dem Byzantinischen Reich austrug, wäre es möglich, dass der Kalif ein Bündnis beider Mächte anstrebte. Entsprechende Abmachungen sind allerdings nicht überliefert.
Tatsächlich erscheint es etwas exotisch, dass König Pippin einen Glasschmelzer auf seiner diplomatischen Wunschliste gehabt haben soll. Andererseits ist bekannt, dass sein Nachfolger Karl der Große sich vom Kalifen Hārūn ar-Rašīd einen Elefanten wünschte, was ihm auch freundlichst gewährt wurde. Vielleicht hoffte al-Mansūr durch die Überlassung eines solch kostbaren Handwerkers an den gewünschten Bündnispartner seine Ziele besser erreichen zu können.
Solche Austausche, bei denen gefragte Handwerker im Rahmen diplomatischer Kontakte überlassen wurden, sind aus dem zehnten Jahrhundert überliefert, als der in Andalusien residierende omayyadische Kalif al-Hakam II. den oströmischen Kaiser Nikephoros II. zur Überlassung eines Mosaiklegers aufforderte, damit dieser seine einheimischen Handwerker für die Verzierungen der großen Moschee von Cordoba ausbildete:
"al-Hakam hatte den König der Römer, also den byzantinischen Kaiser Nikephoros II., aufgefordert ihm einen Handwerker zu schicken, der in der Lage war die Werke nachzubauen, die 'Abdalmalik beim Bau der Moschee von Damaskus hatte anfertigen lassen. Die Gesandten des Kalifen brachten solch einen Mosaikleger mit sowie dreihundertzwanzig Doppelzentner Mosaiksteinchen, die der König der Römer ihm als Geschenk übermitteln ließ"
Ibn 'Idārī, al-Bayān al-Mugrib, trad. Fagnan, t. II, S. 392.
Die der Anfrage zugrunde liegenden diplomatischen Annäherungen waren vereinzelt bereits seit dem neunten und verstärkt im zehnten Jahrhundert von Konstantinopel ausgegangen, das einen Bündnispartner gegen die verfeindeten Kalifen von Bagdad suchte.
Der vom Kalifen al-Mansūr für Pippin ausgewählte Glasschmelzer musste auf jeden Fall nicht nur phantasiereich genug sein, die richtige Mischung des Glasgemenges aus den ihm vorliegenden Rohstoffen herauszufinden, er musste sich auch soweit mit dem Ofenbau auskennen, dass die zur Primärglasherstellung notwendigen, hohen Temperaturen erzeugt und auch gehalten werden konnten.
Das neue Holzascheglas verbreitete sich offensichtlich zuerst im Bereich der fränkischen Herrscherfamilie und ihrer Freunde. So wurde um 778 beim ersten Bau der Königspfalz von Paderborn sowie um 780 bei der Errichtung des Klosters Brunshausen die neue Glasart verwendet. Schutzherr dieses Klosters war der mit Karl dem Großen verbündete sächsische Führer Liudolf, Ahnherr der später kaiserlichen Sippe der Ottonen, dessen Familie ihren Aufstieg der frühen Zusammenarbeit mit den fränkischen Eroberern verdankte. Auch im belgischen Theux entdeckte man bei Ausgrabungen in einer Kirche zum Ende der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts 15 Fragmente einer Bleiverglasung aus Holzascheglas. Die Kirche befindet sich an einem Ort, der schon früh den Karolingern gehörte.
Eine weitere Spur des mutmaßlichen, orientalischen Glasschmelzers findet sich in der königlichen Silbermine von Melle im heutigen Westfrankreich, wohin er vielleicht die Kenntnisse zur Herstellung des dort zeitweilig produzierten Bleiglases vermittelt hatte, eine seltene Glasart, die sonst nur im Orient hergestellt wurde.
Es ist somit nicht ausgeschlossen, dass die Sippe der Karolinger und ihre Freunde eine bedeutende Rolle bei der Erfindung und Verbreitung des Holzascheglases spielten, indem sie in die Reihen ihrer Glashandwerker einen erfahrenen Glasschmelzer aus Italien oder aus dem Orient aufnahmen und solange förderten, bis er das ihm bekannte Glasrezept an die mitteleuropäischen Verhältnisse angepasst hatte.
Zusammengefasst erscheinen die frühmittelalterlichen Glasmacher also als Sklaven, Hörige oder "Gastarbeiter", wobei Letztere wohl für den technologischen Wechsel hin zu dem "moderneren" Holzascheglas sorgten. Die wirtschaftliche Grundlage, die den Glashandwerkern das Überleben in Europa ermöglichte, war die Grundherrschaft. Das heißt, sie konnten sich der Schutzherrschaft eines interessierten Herrn unterordnen, wurden dieser angegliedert oder wurden von diesem Herrn angeworben, wobei ihre Entlohnung dann aus seinem Reichtum stammte. Selbständige mitteleuropäische Handwerker sind seit der Karolingerzeit nicht mehr nachgewiesen, genauso wenig wie weibliche Handwerkerinnen. Die aus dem Römischen Reich stammenden Glasmacherfamilien sahen offenbar aufgrund der erschwerten Zugangsbedingungen zu den Rohstoffen keine Möglichkeit mehr selbst einen festen Kundenstamm aufzubauen oder zu halten; weibliche Glasmacher hatten darüber hinaus im Frühmittelalter insofern einen schwereren Stand, als ihnen nach dem Ende des Weströmischen Reiches keine Geschäftsfähigkeit mehr zugesprochen wurde.
Man kann somit für das mitteleuropäische Frühmittelalter allgemein von einem rechtlichen Tiefpunkt des Glashandwerks sprechen, der weder vorher noch nachher erreicht wurde. Ob hieraus auch auf einen wirtschaftlichen Abstieg geschlossen werden kann, ist aus den Quellen nicht zu ersehen – die der flandrischen Abtei St. Amand gehörenden Glasmacher Baldrich und Ragenulf waren wohl in der Lage ihre Familien selbst zu ernähren.
Publikation
Glashandwerker im Frühmittelalter
Lübeck 2014