Wo der Stier brüllte
In archaischer und klassischer Zeit bildeten 12 ionische Städte, darunter Milet, Ephesos und Priene den "Panionischen Bund". Als Zentralheiligtum dieses Städtebundes fungierte das sogenannte Panionion, in dem die Städte gemeinsam den Kult des Poseidon Helikonios begingen, dem uralten ägäischen Gott des Meeres und des Landes.
Archäologen der Universität Bochum gelang nun der Nachweis, dass man bisher einen falschen Fundort für dieses Heiligtum hielt. Prof. Dr. Hans Lohmann und seine Mitarbeiter Dr. Georg Kalaitzoglou und Dr. Gundula Lüdorf entdecken 100 südlich von Izmir im Mykalegebirge, die Überreste eines gewaltigen Ionischen Temples aus der archaischen Antike.
Ein Opfer für Poseidon
Im Panionion brachten die Ionier dem Gott Poseidon ein Opfer, bei dem ein Stier von jungen Männern zum Altar geschleppt und gezerrt wurde. Dabei galt es als günstiges Omen, wenn der Stier möglichst laut brüllte und stöhnte. Den Namen "Mykale" leitete man später lautmalerisch aus dem Gebrüll der Stiere ("Müühkale") ab. Tatsächlich dürfte er jedoch vorgriechisch sein.
Das Mykale-Gebirge (heute Dilek Daglari) liegt ca. 100 Kilometer südlich der Hafenstadt Izmir. Lohmann und sein Team vom Institut für Archäologische Wissenschaften der RUB haben die Gegend im September 2004 systematisch erforscht: Mit ihrem Fund konnten sie nun das Jahrhunderte alte Rätsel lösen, wo das Panionion liegt.
Der Kult des Poseidon Helikonios
Erste Hinweise auf den Kult des Poseidon Helikonios finden sich bereits bei Homer (8. Jahrhundert vor Christus): Im 20. Gesang der Ilias, Vers 404, erwähnt der Dichter zwar dieses Opfer, nicht aber das Panionion oder den Bund der Ionier, der offenbar erst im 7. Jahrhundert v. Chr. gegründet wurde. Um diesen Poseidonkult, der ursprünglich eng mit der karischen Stadt Melia verbunden war, entbrannte Mitte des 7. Jahrhunderts ein Krieg, der "Meliakos Polemos", in dem Melia zerstört und das Landgebiet unter den siegreichen Griechen aufgeteilt wurde. Die Griechen führten den Kult fort und bauten das Panionion.
In der Folge entfalteten sowohl der Kult als auch das Heiligtum eine starke identitätsstiftende Wirkung und erlangten enorme Bedeutung für die Stammesbildung (Ethnogenese) der Ionier und für die Herausbildung ihrer kulturellen Identität. Noch der antike Historiker Herodot aus Halikarnassos wusste, dass die Ionier ursprünglich keineswegs einen homogenen Stammesverband gebildet hatten. Im 11. und 10. Jahrhundert v. Chr. kamen sie im Zuge der so genannten "Ionischen Wanderung" in kleinen Gruppen nach Westkleinasien.
Wo liegt das Panionion?
Im 1. Buch seiner "Historiai" schreibt Herodot: "Das Panionion ist ein heiliger Platz in der Mykale, der sich nach Norden erstreckt und von den Ioniern gemeinsam dem Poseidon Helikonios geweiht ist." Ein anderer antiker Historiker, Diodor, erwähnt, dass das Panionion ursprünglich an "einsamer Stätte" gelegen habe und man es später verlegen wollte. Bereits 1673 hatten englische Reisende auf der Nordseite des Mykale-Gebirges beim heutigen Ort Güzelçamli eine Inschrift aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. entdeckt, die das Panionion erwähnt. Es schien also nicht fern zu sein.
Auf der falschen Spur
Dennoch lagen die Archäologen zunächst falsch: Theodor Wiegand, der erste Ausgräber von Priene und Milet und einer der bedeutendsten Archäologen des 20. Jahrhunderts, lokalisierte das Panionion 1904 am so genannten "Otomatik Tepe" östlich Güzelçamli, wo sich ein halbkreisförmiger Stufenbau und Fundamente eines Altares erhalten haben.
Ausgrabungen nahmen jedoch erst Gerhard Kleiner und Peter Hommel in den 1950er Jahren vor. Obwohl sie keinerlei Reste der archaischen Zeit, also des 7. und 6. Jahrhunderts v. Chr. fanden, hielten sie die Ruinen bei Güzelçamli für das archaische Panionion. Die Bochumer Archäologen um Hans Lohmann konnten bei ihren diesjährigen Untersuchungen jedoch zweifelsfrei feststellen, dass dort lediglich eine Bauruine liegt: "Offenbar hatte man Ende des 4., Anfang des 3. Jahrhunderts. v. Chr. beschlossen, den panionischen Bund und seinen Kult wiederzubeleben, der seit den Perserkriegen Anfang des 5. Jahrhunderts ruhte", so Lohmann. "Aber der Plan wurde nie völlig realisiert, der Bau blieb unvollendet. Das archaische Panionion musste also woanders liegen ..."
Auf der richtigen Spur
Der berühmte Gräzist Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf hingegen hatte bereits um 1900 allein auf Grund der antiken "Nachrichten" die These vertreten, dass Melia und das Panionion topographisch zusammenfallen. Die Entdeckung durch Prof. Lohmann und sein Team bestätigen dies nun: Im Bereich des Hauptkammes der Mykale, auf "Mykales luftigem Scheitel" (Homer, Ilias 2, 869) stießen sie überraschend in 750 Meter Höhe auf die ausgedehnten Ruinen einer befestigten karischen Höhensiedlung des frühen 7. Jahrhunderts v. Christus. Darin fanden sie die Reste eines stark zerstörten ionischen Tempels der Zeit um 540 v. Chr.
Die bis zu drei Meter breiten, stark verfallenen Wehrmauern bilden ein riesiges Dreieck, dessen Spitze im Norden liegt. Der Tempel ist rund hundert Jahre jünger als der Krieg um Melia und die Zerstörung der Siedlung. Dieser Befund scheint sowohl die These von Wilamowitz zu bestätigen als auch die Angaben von Herodot und Diodor: "Eine einsamere Stätte ist kaum vorstellbar", so Lohmann.
Raubgrabungen und Vandalen
"Doch haben nicht Erdbeben oder die Witterung ihre Zerstörung herbeigeführt, sondern sie wurden offenkundig von Menschenhand absichtsvoll geschleift", sagt Prof. Lohmann. Raubgrabungen hätten in jüngster Zeit jedoch am Tempel des Poseidon schwere Schäden angerichtet, der heute nur noch einen wüsten Schutthaufen von knapp 36 Metern Länge bildet, schildert Lohmann. Dorthinein passt ein hundert Fuß langer Tempel, ein so genannter Hekatompedos. Die Säulen waren nach den erhaltenen Fragmenten zu urteilen etwa 6 Meter hoch -- "ein archaischer Großbau", sagt Prof. Lohmann. Seine Umgebung wurde mit Metalldetektoren abgesucht, wie zahlreiche Raublöcher belegen.
Da es unmöglich ist, diese hochbedeutende archäologische Stätte in der Bergeseinsamkeit der Mykale wirkungsvoll zu schützen, ist für nächstes Jahr unter der Ägide des zuständigen Museums Aydin eine Notgrabung geplant. "Gilt es doch, hochbedeutendes Kulturgut vor dem Zugriff vandalisierender Halunken zu schützen, die nur auf Gold aus sind, und anderes wie beispielsweise den wunderschönen archaischen Stirnziegel mit Darstellung eines Löwen vom Dachrand des Tempels rücksichtslos zerschlagen", so Lohmann.
(Quelle: Universität Bochum)