Liebersee

Ein polykultureller Bestattungsplatz an der sächsischen Elbe

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Linearbandkeramik, Schönfelder Gruppe, Walternienburg-Bernburg, Baalberge und Gatersleben - ob im Neolithikum oder den nachfolgenden Metallzeiten, mitteldeutsche Archäologie ist geprägt von einer Vielzahl kleinräumig verbreiteter und kurzfristig erkennbarer Kulturgruppen. Unstrutgruppe, Helmstedter Gruppe, Lausitzer Kultur, Billendorfer Gruppe, Jastorf-Kultur, Hausurnengruppe, Thüringische Kultur, Hallesche Kultur, Elb- und Odergermanen oder Niemberger Gruppe nennt die Forschung Fundgruppen der jüngeren Vor-und Frühgeschichte »Thüringer« der Merowingerzeit und »Slawen« des Mittelalters vermeintlich sichere ethnische Kulturzuweisungen erlauben.

Teils Verhaltenzüge, wie die Brand- oder Körpergrabsitte, teils Schmuckstücke und Keramikformen oder Kombinationen beider Kategorien, wenig systematisch wurden in langjähriger Forschungsgeschichte archäologischer Fundstoff in Kulturgruppen gegliedert. Sie besitzen demgemäß eine sehr unterschiedliche Wertigkeit in Bezug auf ihre Aussagekraft. Eigentlich reine Ordnungsbegriffe archäologischer Forschung, klingt dennoch oftmals die traditionelle Verbindung von "archäologischer Kultur" und ethnischer Gruppe im Sinne G. Kossinnas im Hintergrund an. So wird die zeitliche Ablösung der Gruppen oftmals explizit oder implizit mit einem Bevölkerungswechsel erklärt. Gerade in den Metallzeiten stammt der zugrunde liegende Fundstoff oft aus kleinen, unvollständig untersuchten Fundplätzen, zumeist Bestattungsplätzen. Ausschnitthaft erfaßt, betonen die vorliegenden Quellen den abrupten Wechsel, lassen dagegen kaum Möglichkeiten, allmählichen Kulturwandel zu erkennen und zu verstehen.

Auch entlang der oberen und mittleren Elbe bestand bisher keine Gelegenheit, Gräberfelder oder gar ganze Siedlungskammern vollständig zu untersuchen und das kulturelle Gefüge, die Nutzungsdauer von Bestattungs- und Siedlungsplätzen oder die Geschichte der regionalen und überregionalen Kontakte der handelnden Menschen über lange Zeitstrecken hin zu verstehen.

Das annähernd vollständig untersuchte Gräberfeld von Liebersee bei Torgau bietet hierzu eine einmalige Forschungsgelegenheit. Weil die Belegung über Jahrhunderte andauerte, kann über die Analyse des Bestattungsplatzes, der idealtypisch für andere Gräberfelder der Region steht, die zeitliche Folge der bekannten "Kulturgruppen" multifaktorell im Hinblick auf Formenkunde, Bestattungsritual und die Bildung von Sozialverbänden und ihren Kulturkontakten beschrieben werden.

Liebersee ist ein typisches kleines Elbdorf nahe der Kleinstadt Belgern, gut 20 km südlich von Torgau in Sachsen. Die Elbe verläßt hier endgültig ihren Oberlauf durch Gebirge und Hügelland, um in ihrem mittleren Lauf durch flaches Land der norddeutschen Tiefebene entgegen zu strömen. Liebersee liegt also in der bekannten archäologischen Zwischenzone, die Mitteldeutschland ein eigenes Gepräge zwischen Nord und Süd verleiht. Der Fundstoff fügt sich nicht vollständig in den nordischen Kreis, rechnet aber auch nicht wirklich zur Zone nordwärts der Alpen. Weder das Chronologiesystem P.Reineckes für den Süden, noch die Einteilung des Nordens nach O.Montelius oder G.Schwantes für Bronze- und Eisenzeit lassen sich nahtlos übertragen.

Weil aber gerade den Verhältnissen an den Verkehrsadern Saale und Elbe wesentliche Bedeutung beim Verständnis der wechselseitigen Beziehungen zwischen Norden und Süden zukommen, ist die Synchronisation der zeitlichen Abfolge zwischen nordischem Kreis, Mitteldeutschland und der Zone nordwärts der Alpen für das Verständnis interkultureller Kontakte zu allen Zeiten entscheidend. Die Aufsplitterung der mitteldeutschen archäologischen Überlieferung in viele kleine Kulturgruppen erleichtert diese Aufgabe nicht. Regionales Kulturgruppenkonzept und überregionale Kulturkontakte können an dem fast vollständig gegrabenen Gräberfeld von Liebersee für alle seine Belegungsepochen hervorragend studiert werden.

Liebersee verdankt seine Einmaligkeit dem Zusammentreffen seltener Glücksfälle in Überlieferungs- und Grabungsgeschichte. Das Gräberfeldareal blieb bis 1970 fast unbebaut, nur die landwirtschaftliche Nutzung richtete gewisse Schäden an. Als 1970 im Randbereich erstmals gebaut wurde, war ein aufmerksamer Heimatforscher, der Zahnarzt Dr. K.-H. Schlegel aus Belgern, zur Stelle und sicherte die ersten bronzezeitlichen Gräber. Über 200 Fundstellen konnte er in den folgenden Jahren bis 1976 unter Anleitung des Landesmuseums für Vorgeschichte in Dresden (K.Kroitzsch) sichern. Tiefergreifendes Pflügen und der Anbau von Spargel griffen zunehmend in die Substanz der Gräber ein und veranlassten das Landesmuseum für Vorgeschichte Dresden unter der Leitung von K.Kroitzsch in mehreren Kampagnen zwischen 1976 und 1980 ca. 1,2 ha Fläche zu untersuchen.

Gut 1500 Gräber sicherten jetzt eine Belegung von der Jungbronzezeit bis in das frühe Mittelalter, ohne dass das Gräberfeld schon als vollständig ausgegraben gelten konnte. Wegen der herausragenden Bedeutung des Gräberfeldes wurden die Grabungen im Rahmen eines DFG-Projektes des Landesamtes für Archäologie Sachsen zwischen 1995 und 1998 fortgesetzt. Der Bestattungsplatz kann jetzt als annähernd vollständig ergraben gelten, die Publikation der Ergebnisse wird derzeit am Landesamt für Archäologie in einer Monographienreihe erarbeitet, von der bereits 4 Bände erschienen sind. Wesentlichen Anteil an Grabung und Aufarbeitung nahmen zahlreiche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die das Arbeitsamt Torgau-Oschatz zur Verfügung stellte.

Insgesamt wurden über 4000 Befunde in Liebersee dokumentiert, von denen knapp 2000 als gesicherte Grabinventare angesprochen werden können. Die Belegung setzt am Beginn der Jungbronzezeit (12. Jahrh. v. Chr.) ein, wobei ca. 50 typische Brandgräber der Lausitzer Kultur in kleinen Gruppen bereits das gesamte spätere Gräberfeldareal umschreiben. Dem gegenüber füllen die folgenden ca. 450 Gräber der jüngstbronzezeitlichen Stufe der Lausitzer Kultur (10. - 8. Jahrh. v. Chr.) ein dicht gedrängtes, eng umschriebenes Areal im Südosten der Nekropole.

Das Schema erinnert an das riesige Hügelgräberfeld von Falkenberg, Lkr. Elbe-Elster, wo sehr große Jungbronzezeitliche Grabhügel im Südosten von vielen, nah beieinander liegenden kleinen Hügeln der Jüngstbronzezeit gefolgt werden. Obertägig sind auf dem Acker von Liebersee keine Grabhügel mehr zu sehen, dennoch gibt es Hinweise, dass solche ursprünglich existierten und mindestens bis zum Ende der Belegung sichtbar gewesen sein dürften.

So sparen die folgenden ca. 1000 Gräber der vorrömischen Eisenzeit, die ein geschlossenes Belegungsareal im Süden und Westen der Nekropole bilden, charakteristische Areale aus. Noch vor Beginn der Römischen Kaiserzeit setzt die Belegung von Liebersee für eine kurze Zeit aus - Bestattungen der Stufe LT D2 oder des sog. Großromstedter Horizontes fehlen. Einige Urnengräber der älteren Römischen Kaiserzeit begründen im Norden die Nutzung Nekropole neu.

Ihnen folgen während der jüngeren Römischen Kaiserzeit nach Südosten hin mehrere hundert Urnen-, Brandgruben und Brandschüttungsgräber, die zur frühen Völkerwanderungszeit von den an Saale und mittlerer Elbe charakteristischen Körpergräbern der Niemberger Gruppe abgelöst werden. Über 80 solcher Körpergräber nehmen auf die älteren jüngstbronzezeitlichen Gräber im östlichen Gräberfeldbereich keine Rücksicht, sondern zerstören etliche. Dagegen liegen die folgenden Körpergräber der Merowingerzeit in 4 kleinen Gruppen, die im Zentrum der Nekropole auf große Grabhügel hin orientiert zu sein scheinen.

Den Abschluß der Belegung bilden knapp 20 Urnengräbern mit Keramik vom Prager Typus, der den frühen Slawen zugeschrieben wird. Sie verteilen sich, ganz wie die jungbronzezeitlichen am Beginn der Belegung, über das gesamte Gräberfeldareal. Vielleicht ein letzter Hinweis, dass selbst damals, als nach 700 n.Chr. die Belegung auf dem Friedhof von Liebersee nach gut 2000 Jahren endete, noch Grabhügel sichtbar gewesen sein könnten.

Obwohl sich die Grabinventare keineswegs gleichmäßig auf alle Perioden zwischen Jungbronzezeit und frühen Slawen verteilen, lieferte Liebersee dennoch für jeden Belegungsabschnitt allein die größte Anzahl gesicherter Grabinventare im mitteldeutschen Raum. Auf einem einzigen Platz kann die regionaltypische Ausstattung anhand verhältnismäßig vielen gesicherten Grabinventaren umschrieben werden und vom fremden Einzelstück unterschieden werden.

So füllen zwar zahllose Fundgegenstände der bronzezeitlichen Lausitzer Kultur die einschlägigen Museen - ihre Masse steht aber in krassem Gegensatz zu sorgfältig ausgegrabenen und verläßlich publizierten Inventaren gerade der sächsisch-lausitzischen Gruppe. Untersuchungen zur Chronologie jenseits der reinen Stilkunde waren bisher nicht möglich, ausgeschlossen systematisches Verstehen des hochentwickelten Bestattungsrituals der Lausitzer Kultur, das uns die immense Masse an Keramik überliefert hat .

Zwar konnten einzelne interessante Bestattungen vorgelegt werden, Untersuchungen zur Regelhaftigkeit der Ausstattungen und damit zu einem Reglement der Bestattungshandlungen waren aber bisher in der sächisch-lausitzischen Gruppe nicht möglich, immhin einem Kerngebiet der Lausitzer Kultur.

Schon jetzt, nach der reinen Katalogvorlage etwa der Hälfte der bronzezeitlichen Gräber von Liebersee, zeichnen sich bereits spannenden Einsichten in Totenritual und damit geistiges Leben im Endabschnitt der Lausitzer Kultur (10. - 8. Jht. v.Chr.) ab. Voraussetzung ist die Wiedergewinnung sicherer Grabinventare. Obwohl der Zahnarzt sorgfältig grub und dokumentierte, erfasste seine Grabungsmethode, die auch diejenige vieler älterer Grabungen andernorts gewesen sein dürfte, nicht immer die vollständige Bestattung. Da alle Areale des Gräberfeldes im Laufe der Grabungsgeschichte noch einmal flächig untersucht wurden und man dabei die alten Arbeitsgruben der punktuellen Arbeitsweise dokumentierte, liegen sichere Anhaltspunkte vor.

Die großzügige ABM-Förderung erlaubt den gesamten keramischen Fundbestand sorgfältig zu restaurieren und auf Zusammengehörigkeiten hin zu analysieren. So können im Zuge der Katalogvorlage manche auseinandergerissenen Inventare begründet wieder zusammen geführt werden oder unvollständige Inventare als solche erkannt werden. Dem kommt grundsätzliche Bedeutung zu, da davon auszugehen ist, dass eine Vielzahl älter publizierter Grabinventare, die aus punktuellen Untersuchungen stammen, kaum die ursprüngliche Geschirrausstattung vollständig wiedergeben dürften, schon gar wenn man sich bei der Bergung auf intakte Gefäße beschränkte. Den vollständigen Geschirrsatz zu kennen, und zwar einschließlich derjenigen Gefäße, die schon zerscherbt und unvollständig dem Grab anvertraut wurden, ist aber entscheidend, will man die regelhaften Züge des Totenrituals verstehen. Für die jüngste Bronzezeit zeichnen sich schon jetzt spannende neue Erkenntnisse ab.

Tausende von Tongefäßen lassen sich in eine überraschend geringe Zahl von streng definierten Grundformen sortieren. Feine Keramik ist mit hohen, eng- und weitmundigen Behältern, einhenkligen Schöpfgefäßen wie Tassen und Krügen, weitmundigen Schalen und Schüsseln sowie auffällig geformten oder verzierten Sonderformen vertreten. Dazu treten Gefäße grober Machart. Die Gefäßausstattung der Gräber ist - bei allen Varianten - reglementiert. Bestimmte Gefäße sind nach ihrer Funktion zu Gruppen zusammengefaßt, die wie Module zur Gesamtausstattung kombiniert werden.

Diese Geschirrsätze aus Behältern, Schöpf-, Trink- und Spendegefäßen können als dinglicher Überrest von rituellen Handlungen am Grab verstanden werden, in denen sicher Trankspenden und Libationen eine Rolle spielten. Selbst die bekannten Scherbenpackungen aus sekundär verbrannten Gefäßen lassen sich bei sorgfältiger Restaurierung zu entsprechenden Geschirrsätzen ergänzen und legen die Vermutung nahe, dass sie ebenfalls in Gebrauch waren, möglicherweise bei Zeremonien während der Verbrennung auf dem Scheiterhaufen.

Dass es sich um religiös inspirierte Handlungen handelt, zeigt die Integration stark symbolhaltiger Formen in die regelhaften Sätze. Vogelklappern, abstrakte Tonrasseln, Kompositgefäße, Miniaturformen, Briquetagestücke, Tonräder und Gefäße mit auffälligen Verzierungen nehmen häufig eine herausgehobene Rolle in den Gefäßsätzen ein.

Während so mit Hilfe der bronzezeitlichen Grabausstattungen neuartige Einblicke in die geistige Welt der des 10. -8. Jahrhunderts v.Chr. gewonnen werden können, sind die Gräber nur selten mit überrgional verbreiteten Metallformen ausgestattet. Dies ändert sich während der frühen Eisenzeit.

Anders als in den Kerngebieten der Lausitzer Kultur östlich der Elbe, wo im Kontakt mit dem hallstattzeitlichen Südostalpengebiet das komplexe Grabritual als Ausdruck einer bestimmten Geisteshaltung während der früheisenzeitlichen Billendorfer Gruppe erst seinen streng reglementierten Höhepunkt erreicht, nimmt in Liebersee - wie überall westlich der mittleren Elbe - die Beigabe von Beigefäßen während der frühen Eisenzeit rapide ab. Und während in der Lausitz die Besiedlung nach der hallstattzeitlichen Billendorfer Gruppe ganz auszusetzen scheint, werden in Liebersee -wiederum wie sonst an Elbe, Mulde und Saale - während der gesamten Latènezeit neue Gräber angelegt.

Zunehmend werden die Verstorbenen während der vorrömischen Eisenzeit noch im Grab mit ihren Trachtbestandteilen wie Nadeln, Fibeln, Ohrringen und Gürtelteilen gekennzeichnet, Spuren eines Trank- oder Spenderituals sind während der Hallstattzeit allenfalls noch an der Beigabe eines Schöpfgefäßes zu erkennen und verschwinden in der Latènezeit ganz. Dass die Bestattungsgemeinschaft aber nach wie vor den Tod in komplexe religiöse Vorstellungen einbindet, zeigen ausgewählte Sonderformen, wie eine subfigürlich verzierte Urne oder eine Urne mit abstrakter Gesichtsdarstellung, an der Schmucknadeln außen hafteten, die also ursprünglich bekleidet beigesetzt worden war.

Bestattungsriten, Trachtausstattung und Keramikformen fügen sich in das mitteldeutsche Bild, das seinerseits wiederum durch eine Vielzahl unterschiedlich definierter Kulturgruppen definiert ist. Körperbestattungen kennzeichnen die "Thüringische Kultur," Brandgräber an der oberen Saale werden zur "Dreitzscher Gruppe" zusammengefaßt, während man an der unteren Saale die "Hallesche Kultur" von der umgebenden "Hausurnengruppe" abhebt, benannt nach vereinzelten auffälligen Grabbehältern. Gemeinsam werden diese Gruppen von der Forschung in scharfen Gegensatz zu nördlich der Mittelelbe liegenden Brandgrabgruppen gestellt, die unter dem Begriff der "Jastorf-Zivilisation" zusammengefaßt werden.

Deren Genese im Norden wird ethnisch mit dem Werden germanischer Stammesgruppen verbunden, die im Laufe der folgenden Latènezeit entlang von Saale, Mulde und Elbe südwärts bis nach Nordböhmen gewandert seien. So erklärt man sich viele Gemeinsamkeiten, die die latènezeitlichen Brandgräber Mitteldeutschlands mit ihren nördlichen Nachbarn aufweisen. Mit ca.1000 Brandgräbern ist Liebersee das mit Abstand größte eisenzeitliche Gräberfeld in dieser Mittelzone. Derzeit sind keinerlei Anzeichen für einen Belegungsbruch zwischen den mitteldeutsch geprägten Gräbern der frühen Eisenzeit und denjenigen von Jastorf-Charakter erkennbar.

Die anhand unvollständig gegrabener Bestattungsplätze andernorts konstatierte Ortsdifferenz zwischen Bestattungsplätzen der Hausurnen- und Jastorfgruppen kann nicht bestätigt werden, eher lassen sich hinweise auf ein zeitliches Nacheinander beider Formausprägungen finden. Dies wird dadurch erleichtert, dass wie überall in den Gräbern südlich der Mittelelbe von der Späthallstattzeit über die Latènezeit zunehmend süddeutsche Schmuckformen rezipiert werden.

Die im Süden vor allem anhand von Nadeln und Fibeln definierte Stufenfolge läßt sich also nutzen. Schon die in Liebersee gefundenen Fibeln, wie Paukenfibel, Vogelkopffibeln, Duxer Fibeln, Mittellatène- und Spätlatènefibeln sichern die stetige Belegung von der Hallstattzeit bis zur späten Latènezeit.

Die sorgfältige Analyse ihrer Vergesellschaftungen mit nach Norden weisenden Schmuckformen, wie z.B. Segelohrringen, Zungengürtelhaken und gekröpften Nadeln sowie der nördlich geprägten Keramik wird die seit alters umstrittene Verknüpfung von Jastorf - und Latènechronologie sichern. Die Genese der Jastorfprägung in Mitteldeutschland wird dadurch besser verständlich. Letztlich muß dies zu einer grundlegenden Neueinschätzung der ethnischen Interpretation der beteiligten archäologischen Kulturgruppen führen, ja im diachronen Schnitt das ganze Konzept ethnischer Deutung beleuchten. Denn auch in der jüngeren Latènezeit werden auffällige Veränderungen mit Zuzug fremder Bevölkerungsgruppen, also ethnisch erklärt.

Über Mitteldeutschland bis nach Hessen und Bayern sind in der jüngeren Latènezeit Keramikformen und Metallgut verbreitet, deren Hauptverbreitung im Osten, an Oder und Warthe liegt und dort als Przeworsk-Kultur benannt werden. Schon in Mitteldeutschland, wo sie regelhaft auftreten, werden sie als Fremd empfunden. Ihr Auftreten ist verbunden mit der erstmaligen Kennzeichnung ausgewählter Verstorbener durch die Beigabe ihrer Waffen.

Es lag nahe, diese Beobachtungen mit einem Überschichtungsprozeß, also einer Zuwanderung von Menschengruppen aus dem Osten zu verbinden, bei denen der Krieger eine herausragende Rolle gespielt haben soll. Auch in Liebersee tragen viele Gefäße die kennzeichnenden Merkmale, wie verdickt facettierte Ränder und x-förmige Henkel.

Und auch hier werden in der Spätlatènezeit 6 Männer mit ihrer vollen Bewaffnung, nämlich Schwert, Schild und Lanze beigesetzt. Dies ist die größte bisher bekannte Anzahl entsprechender Waffengräber von einem Platz, zudem einem weitgehend vollständig erschlossenen. Erstmals kann das Verhältnis der Waffenträger zum traditionellen Bestattungsplatz der lokalen Bewohner fundiert beurteilt werden.

Die Waffengräber sind vollständig in den lokalen Bestattungsplatz und seine gewachsenen Belegungsareale eingebunden. Wie an der Elbe üblich wurde der Leichenbrand in Urnen geborgen und nicht, wie an Oder und Warthe mit Resten des Scheiterhaufens in große Gruben geschüttet. Auch in den anderen Urnen von Przeworsk-Form scheinen Menschen bestattet zu sein, die kennzeichnende einheimische Trachtbestandteile wie Fibeln der Form Beltz J und Stabgürtelhaken trugen. Bis auf wenige Einzelfälle fehlt kennzeichnender Schmuck des Ostens, wie dreiteilige Gürtelhaken, ganz.

Es liegt nahe, die Schwertgräber eher mit lokalen Führungspersönlichkeiten zu vebinden, die den neuen Ritus der Waffenbeigabe fürs Jenseits übernahmen, als mit fremden Kriegern, die sich der Lieberseer Bestattungsgemeinschaft zugesellten.

Auch nach der kurzen Belegungsunterbrechung am Ende der Eisenzeit spielen wechselnde Ost- West Bezüge, die traditionell ethnisch interpretiert werden eine große Rolle im Fundstoff von Liebersee. Weichen die Gräber während der älteren Kaiserzeit in keiner Weise vom sog. elbgermanischen Ritus ab, so richteten sich die Menschen der jüngeren Kaiserzeit mit Brandgruben- und Brandschüttungsgräbern wieder enger an Riten wie sie östlich der Elbe verbreitet waren. Lediglich im Bestattungsritus, viel weniger im Fundgut selbst, erscheint der Übergang zur nord - süd gerichteten Körpergrabsitte als einschneidender Wechsel. Man sucht die Zuwanderer diesmal mehr im Südosten, während die folgende Belegungsgruppe von Ost-Westgerichteten Körpergräbern ihr Vorbild im merowingischen Reihengräberkreis, speziell dem Reich der Thüringer haben soll.

 

Da sich bei all diesen Kulturwechseln doch recht erhebliche Kontinuitätsstränge aufzeigen lassen, gerät auch die bisher unumstrittene Ablösung germanischer Bevölkerung durch slawische Zuwanderer aus dem Osten in das Blickfeld kritischer Forschungsansätze. Selbst wenn man von einer solchen Zuwanderung ausgeht, ist die wohl bewußte Nutzung eines alten Bestattungsplatzes aufschlußreich.

Es ist deshalb von entscheidender Bedeutung, anhand aller verfügbaren Informationen, den ursprünglichen Gräberfeldaufbau wieder zu gewinnen, um wirkliche von vermeintlichen Belegungsbrüchen unterscheiden zu können, aber auch um einstmals vielleicht vorhandene, bis ins Mittelalter sichtbare Grabhügel erkennen zu können.

Liebersee kommt dabei paradigmatische Funktion zu, da es Anhaltspunkte gibt, dass die ortskonstante Belegung über mehrere Zeitabschnitte hinweg, zumindest entlang der Elbe den Normalfall darstellt. So entdeckte K.-H. Schlegel etwa zeitgleich mit den Gräbern von Liebersee bei Döbeltitz, nur ca. 5 km nördlich von Liebersee in gleicher Lage über der Elbaue einen weiteren Bestattungsplatz, der neben bronzezeitlichen, latènezeitlichen auch jüngerkaiserzeitliche Bestattungen enthielt. Baumaßnahmen zerstörten ihn weitgehend, weitere Plätze lassen ähnliches vermuten.

Die außergewöhnliche Ausgangslage mit 2000 geborgenen Gräbern in Liebersee, die fast 2000 Jahre sächsische Geschichte erhellen, bietet die Chance, weit über sächsische Verhältnisse hinaus Fragen des Kulturwandels und -wechsels, der Beharrlichkeit bäuerlicher Verbände oder Mobilität einzelner Personenverbände auf fundierter Quellenbasis zu studieren und sich von dem groben Bild scharf getrennter Bevölkerungsverschiebungen zu lösen.

 

Webtipp

Weitere Informationen zur Archäologie in Sachsen finden Sie auf den Webseiten des LfA Sachsen: www.archaeologie.sachsen.de