Die Alemannen
1. Wer sind die Alemannen?
Da wir für die ersten Jahrhunderte der Geschichte der Alemannen kein schriftliches Selbstzeugnis dieses Volkes, sondern nur Fremdzeugnisse römischer Autoren besitzen, haben wir als Alamanni notgedrungen diejenigen anzusehen, die von den Römern als solche bezeichnet wurden. Wir haben aber keine Sicherheit, dass die Menschen, die von den römischen Schriftstellern unter dem gemeinsamen Namen Alamanni zusammengefasst wurden, sich selbst als solche betrachtet, dass sie sich überhaupt als zusammengehörig angesehen haben; und erst recht fehlt jeder Hinweis darauf, dass die in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts in das zuvor von den Römern beherrschte rechtsrheinische Gebiet eingedrungenen Germanenscharen einem »Volk« angehörten oder gar als »Stamm« (im Sinne einer Abstammungsgemeinschaft) zu bezeichnen sind. Denn es gibt aus den ersten Jahrhunderten nach der Erstnennung ihres Namens keinerlei Indizien für ein gemeinsames Stammesbewusstsein, für Mythen gemeinsamer Abstammung oder auch für sprachliche Gemeinsamkeiten. Insofern entbehrt es jeder Grundlage, wenn Rainer Christlein das Jahr 260 n. Chr. »die Geburtsstunde des alamannischen Stammes als Staatsgebilde« nennt, eines Stammes, der sich bereits zuvor »weit im Innern Germaniens« gebildet habe.
2. Woher kommen die Alemannen?
In Ermangelung früher Sprachzeugnisse vermag die Sprachwissenschaft keine Aussagen über die Herkunft der Alemannen zu machen. Da auch die schriftliche Überlieferung der römischen Autoren nichts über die Provenienz der Alamanni berichtet, sind wir auf archäologische Zeugnisse angewiesen. Signifikante Übereinstimmungen im frühesten Fundgut aus südwestdeutschen Gräbern einerseits und aus Gräbern des Elb-Saale-Gebietes andererseits erlauben die Aussage, dass ein großer Teil der neuen Bevölkerung, die sich vom 3. Jahrhundert ab im Gebiet des heutigen Baden-Württemberg archäologisch nachweisen lässt, mit dem als »elbgermanisch« bezeichneten Kulturkreis in Beziehung stand. Da sich aber keine einheitliche, ethnisch-spezifische »alemannische« , »semnonische« , »suebische« oder »elbgermanische« Bestattungs- oder Beigabensitte erkennen lässt, und zwar weder im vermuteten Herkunftsgebiet noch im neuen Siedlungsgebiet, ist die in der Literatur immer wieder anzutreffende Vermutung, der Stamm der Alemannen habe sich bereits vor der Völkerwanderung »im Innern Germaniens« gebildet auch mit archäologischen Mitteln nicht nachweisbar.
Das Bild von der Wanderung des alemannischen Volksstammes als mehr oder weniger geschlossene Einheit von der Elbe an den Oberrhein sollte, da es weder von den Aussagen der schriftlichen Quellen, noch von sprachwissenschaftlichen Argumenten gestützt, noch durch die archäologisch fassbaren Hinterlassenschaften begründet wird, aufgegeben werden. Stattdessen ist von einem über einen längeren Zeitraum sich erstreckenden Prozess des Eindringens von unterschiedlichen Personenverbänden in den von den Römern preisgegebenen Raum östlich des Oberrheins und nördlich des Hochrheins auszugehen, der im 3. und 4. Jahrhundert eine gewisse Sogwirkung ausgeübt haben dürfte.
3. Die frühesten Zeugnisse des Alemannen-Namens
Im Gegensatz zur älteren Forschung, die von der ersten Erwähnung der Alemannen anlässlich eines Feldzuges des Kaisers Caracalla gegen diese im Jahre 213 n. Ch. ausgeht, ist festzuhalten, dass die zeitgenössischen Quellen in diesem Zusammenhang nur allgemein von Germanen oder Barbaren sprechen. Entsprechend lautet auch der inschriftlich überlieferte Beiname Caracallas Germanicus Maximus und nicht Alamannicus Maximus. Vor dem Fall des Limes im Jahre 259/260 war der Alemannen-Name offenbar unbekannt. Erst nachdem die germanischen Eindringlinge die Nachbarn der Römer am Oberrhein geworden sind, taucht jenseits des Rheins, erstmals im Jahre 289 in Trier in einer Lobrede auf Kaiser Maximian, der Name Alamanni für jene Volksscharen auf, »die bis zu diesem Zeitpunkt Germani genannt wurden« (Historia Augusta).
Zur Bedeutung des Namens hat sich der byzantinische Schriftsteller Agathias im 6. Jahrhundert geäußert. Er behauptet, Asinius Quadratus, ein Autor des 3. Jahrhunderts, habe 'Alama noí als »zusammengespülte und vermengte Menschen« erklärt, »und dies drückt auch ihre Benennung aus«. Obgleich diese Deutung des Volksnamens eher abschätzig gemeint ist, entspricht sie doch weitgehend der Worterklärung, die heutige Sprachwissenschaftler geben: »Menschen insgesamt, Menschen irgend-welcher Art« ; denn der erste Bestandteil des Namens, *al(a) meint stets »eine Gesamtheit von Individuen« . Diese Erklärung passt vorzüglich zu der neuerdings vertretenen Vorstellung einer Ethnogenese der Alemannen aus verschiedenen, ethnisch unterschiedlichen Personengruppen, wenngleich die Frage, wie, wann, warum und durch wen diese Benennung aufgekommen ist, unbeantwortet bleiben muss. Dafür, dass der Name Alamanni schon vor der Mitte des 3. Jahrhunderts bestanden hat, gibt es kein Zeugnis. Insofern spricht nichts dagegen, die Ethnogenese und Namengebung ins 3. Jahrhundert und damit in den Zusammenhang der Konfrontation mit den Römern zu datieren.
4. Waren die Alemannen unter einem Großkönig geeint?
Der römische Schriftsteller Ammianus Marcellinus (ca. 330-395), dem wir die wichtigsten Informationen über die Alemannen verdanken, nennt nicht nur die Namen einer großen Zahl von Königen (reges), die auf alemannischer Seite - etwa in der Schlacht bei Straßburg (357) - kämpften. Er überliefert auch die Namen einzelner Bevölkerungsgruppen (populi, nationes, gentes), aus denen sich die Gesamtheit der Alemannen zusammensetzte. So nennt er etwa die Bucinobantes, die rechts des Rheins gegenüber von Mainz siedelten, weiter oberhalb gegenüber von Straßburg und Basel die Brisigavi, nördlich des Bodensees die Lentienses und noch weiter nördlich, oberhalb der Donau, die Juthungi. Diese Personenverbände wurden von »Gaukönigen« angeführt, die unabhängig voneinander Verträge mit den Römern, aber natürlich auch miteinander gegen die Römer, abschließen konnten. Einen »Gesamtkönig« aller Alemannen hat es im 4. Jahrhundert offenbar nicht gegeben.
Nun ist in der Forschung immer wieder behauptet worden, dass sich gegen Ende des 5. Jahrhunderts bei den Alemannen das Einkönigtum durchgesetzt habe. Denn in der »Entscheidungsschlacht« der Alemannen gegen die Franken 496/97 müsse dem Frankenkönig Chlodwig ein ebenbürtiger alemannischer Großkönig gegenübergestanden haben. Durch den Tod dieses alemannischen Großkönigs in der »Schlacht bei Zülpich« sei die Niederlage der Alemannen zur Katastrophe geworden, die das Schicksal des unterlegenen Volkes für immer besiegelt habe. Auch die legendenhafte Erzählung des Bischofs Gregor von Tours (ca. 540-594), Chlodwig habe im Verlauf dieser Schlacht, als den Franken eine Niederlage drohte, dem Christengott für den Fall seines Sieges die Taufe gelobt, hat dazu beigetragen, dass diese fränkisch-alemannische Auseinandersetzung 496/97 zum Mythos einer Schicksals- oder Entscheidungsschlacht stilisiert wurde.
Die Quellen lassen jedoch vermuten, dass es um 500 mehrere Schlachten zwischen Alemannen und Franken gegeben hat, bei denen jeweils ein Alemannenkönig fiel. Daraus ist zu folgern, dass es auch zu dieser Zeit keine Zusammenfassung aller alemannischen Kräfte unter einem König gab. Dies mag auch einer der Gründe für die Unterlegenheit der Alemannen gewesen sein, die nun ihre Selbständigkeit verloren und deren Siedlungsgebiet langfristig als Provinz in das Frankenreich der Merowingerkönige integriert wurde.
5. Das alemannische Herzogtum bis zum »Blutgericht zu Cannstatt«
Wenn wir im 6. und 7. Jahrhundert von Alemannenherzögen hören, so handelt es sich um Amtsträger der Franken, um »Amtsherzöge«, die von den Merowingern ein- und gegebenenfalls auch abgesetzt wurden. Erst Herzog Gotfrid gelang es um 700, seine Familie als Herzoghaus fest zu etablieren und das Amt des Alemannenherzogs an seine Söhne weiterzugeben. Deren antifränkische Opposition, die sie im Bündnis mit dem verwandten bayrischen Herzogshaus zu stärken versuchten, richtete sich nicht gegen die Merowingerkönige, sondern gegen die karolingischen Hausmeier, die selbst nach der Königswürde strebten. Die Hausmeier erwiesen sich letztlich als die Stärkeren. Im sogenannten »Blutgericht zu Cannstatt« gelang es 746 dem Hausmeier Karlmann, das alemannische Herzogtum zu beseitigen. Damit endete die Geschichte der Alemannen, die von nun an durch ein System von Grafschaften in das Großreich der fränkischen Karolinger eingegliedert wurden.
Das in der Ottonenzeit neu eingerichtete »Herzogtum Schwaben« knüpfte nicht an das 746 untergegangene alemannische Herzogtum an, sondern hatte eine ganz andere Machtbasis. Das Herzogsamt war im 10. und 11. Jahrhundert ein königliches Amt, sein jeweiliger Inhaber war Lehnsmann und Vasall des Königs.
Literatur
- Hübener, Wolfgang (Hrsg.), Die Alemannen in der Frühzeit. Veröffentlichungen des Alemannischen Instituts Freiburg i. Br. 34 (Bühl 1974).
- Behr, Bruno, Das alemannische Herzogtum bis 750. Geist und Werk der Zeiten 41, (Bern - Frankfurt/Main 1975).
- Müller, Wolfgang (Hrsg.), Zur Geschichte der Alemannen. Wege der Forschung 100 (Darmstadt 1975).
- Christlein, Rainer, Die Alamannen. Archäologie eines lebendigen Volkes (Stuttgart - Aalen 1979).
- Hartung, Wolfgang, Süddeutschland in der frühen Merowingerzeit. Studien zu Gesellschaft, Herrschaft, Stammesbildung bei den Alamannen und Bajuwaren. Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 73 (Wiesbaden 1983).
- Staab, Franz (Hrsg.), Zur Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter am Oberrhein. Oberrheinische Studien 11 (Sigmaringen 1994).
- Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg (Hrsg.), Die Alamannen. Begleitband zur Ausstellung (Stuttgart 1997).
- Geuenich, Dieter, Geschichte der Alemannen. Urban-Taschenbücher 575 (Stuttgart - Berlin - Köln 1997).
- Geuenich, Dieter (Hrsg.), Die Franken und die Alemannen bis zur »Schlacht bei Zülpich« (496/97). Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 19 (Berlin - New York 1998).
Die Quellen zur Geschichte der Alemannen sind in Auszügen und mit deutscher Übersetzung bequem zugänglich in: Quellen zur Geschichte der Alamannen, Hefte 1-7, hg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Kommission für Alamannische Altertumskunde (Heidelberg - Sigmaringen 1976-1987).