Der »Kybele-Kultkeller« in Neuss
Abschied von einem Mythos?
1956 wurde am heutigen Gepaplatz in Neuss bei Rettungsgrabungen des Rheinischen Landesmuseums Bonn ein Steinkeller mit Stampflehmfußboden entdeckt, der als "Kybele-Kultkeller" Eingang in die Literatur gefunden hat.
Der Keller ist aus römischen Spolien errichtet - darunter eine Steinurne, Unterlegsteine für Holzpfosten sowie ein Weihealtar für den "besten und größten Jupiter", den höchsten der römischen Staatsgötter.
Auffallend ist das unregelmäßige und laienhaft gesetzte Mauerwerk des Kellers, das keinen Steinbau im Aufgehenden getragen haben kann: Die Steine sind ohne Mörtel in den anstehenden Sand gesetzt, die Fugen mehrerer Steinlagen liegen nicht versetzt übereinander. Spuren eines Holzdaches oder -gebäudes, das sich über dem Keller befunden haben muss, wurden bei den Ausgrabungen nicht dokumentiert.
Außergewöhnlich sind eine kleine gemauerte Bank und die beiden sich gegenüberliegenden Treppen des Kellers, die in keinem Verhältnis zu dem kleinen Innenraum von ca. 1,80 m x 1,80 m stehen und offensichtlich eine gute Zugänglichkeit des Raumes gewährleisten sollten.
Die Bauweise des Kellers unterscheidet sich klar von dem soliden römischen Werksteinmauerwerk des 2. und 3. Jahrhunderts und spricht für eine Errichtung des Kellers in der Spätantike, als die Frankeneinfälle am Niederrhein zu einem rapiden wirtschaftlichen und technischen Niedergang geführt hatten.
In dem Erdreich, mit dem der Keller nach seiner Aufgabe verfüllt worden war, befanden sich 42 Münzen. Die beiden jüngsten Münzen sind je ein Follis der Kaiser Constantin I. (313/315) und Constans (341/346). Die Verfüllung des Kellers muss somit nach dem Jahr 341 n.Chr. erfolgt sein.
Die Interpretation des Kellers als Kybele-Kultstätte geht zurück auf Harald von Petrikovits, den damaligen Direktor des Rheinischen Landesmuseums. Bereits während der Grabungen hatten er und sein Ausgrabungsteam, darunter die Archäologen Wilhelm Piepers, Walter Janssen und Gernot Jacob-Friesen erkannt, dass sich im 2./3. Jh. am Gepaplatz ein heiliger Bezirk befunden haben muss, zu dem eine Säule mit einem throndenden Jupiter gehörte. Die beiden Treppen des Kellers ließen keinen Zweifel daran aufkommen, dass auch diese Anlage kultischen Zwecken gedient hatte.
1947, wenige Jahre vor der Freilegung des Kellers am Gepaplatz, hatte der italienische Archäologe Guido Calza einen Artikel über das Heiligtum der Magna Mater in Ostia bei Rom veröffentlicht. Calza hatte die Vermutung geäußert, dass das Taurobolium, die Stierbluttaufe, nicht, wie bis dahin angenommen, in einer Erdgrube, sondern in einem Keller nahe des Kybele-Tempels gefeiert wurde. Bei diesem Ritual wurde ein Stier über einer mit Bohlen abgedeckten Grube geschlachtet, so dass das Blut auf den in der Grube befindlichen Priester tropfte.
Von Petrikovits übertrug nun dieses Modell auf den Neusser Befund und schlug seine Deutung als Kybele-Kultkeller vor. Verschiedene Indizien stützten seine These. Aus heutiger Sicht sind diese Hinweise aber kritisch zu hinterfragen:
- Der spätantike Dichter Prudentius, der als einziger das Taurobolium im Kybele-Kult beschreibt, berichtet nicht von einem Keller, sondern von einer in die Erde gegrabenen Grube.
- Alle bisher bekannten römischen Kybeleheiligtümer befinden sich in normalen Podiums- bzw. Umgangstempeln.
- In den erforschten Magna-Mater-Heiligtümern wurden bislang keine Taufkeller entdeckt. Die in Ostia gefundene Anlage gehörte vermutlich gar nicht zum Kybele-Tempel und diente auch nicht dem Taurobolium.
- Zwei kleine Frauenterrakotten, die in der Nähe des Kellers gefunden wurden, sowie eine dritte Figur, die wohl nicht vom Gepaplatz stammt und eine thronende Göttin mit Krone zeigt, deutete von Petrikovits seinerzeit als Darstellungen der Kybele. Mittlerweile hat sich aber herausgestellt, dass es sich bei diesen Figurinen wohl eher um einheimische, germanische bzw. gallo-römische Muttergöttinnen handelt.
- Die Votivfigur eines liegenden Stieres wurde als Opferstier des Kybele-Kultes gedeutet. Zu der Terrakotte gibt es mittlerweile ein Gegenstück aus Köln, das den Namen der Göttin Isis trägt.
- Alle Votivfiguren stammen aus dem 2. Jh. und sind deutlich älter als der Keller.
- Bei der in der Verfüllung des Kellers gefundenen "Zimbel" handelt es sich um ein getriebenes Bronzeblech, das wohl als Schildbuckel oder Phalera, keinesfalls aber als Klanginstrument anzusprechen ist.
Für die Verehrung der Kybele am Gepaplatz sowie in Neuss überhaupt gibt es somit keine Belege. Auch das im Mannheimer Reiss-Museum aufbewahrte Kybele-Relief stammt nur "angeblich" aus Neuss und war bis 1789 im herzoglichen Schloß zu Düsseldorf verbaut.
Gleichwohl muss der Keller eine irgendwie geartete sakrale Funktion besessen haben, auch wenn eine letztendliche Deutung der Anlage durch die fehlende Aufarbeitung der Ausgrabungen am Gepaplatz erschwert wird. Aus den Funden in der Kellerverfüllung lassen sich keine Hinweise auf die Funktion des Kellers ableiten. Zu ihnen gehören neben kleinteilig zerscherbter Siedlungskeramik aus der nahegelegenen Canaba und den erwähnten Münzen mehrere kleine Weihealtäre (davon einer mit Jupiter-Inschrift) sowie Teile der erwähnten Jupitersäule aus dem nahegelegenen Heiligen Bezirk. Zum Zeitpunkt der Errichtung des Kellers scheint diese Anlage bereits aufgegeben gewesen zu sein, da ein weiterer Altar mit Jupiter-Weihung im Mauerwerk des Kellers verbaut war.
Der Verwendungszweck der Anlage läßt sich durch den Bau des Kellers (frühestens im späten 3. Jh.) und seine Auflassung (nach 350 n.Chr.) etwas eingrenzen: Im 4. Jh. ist die Errichtung eines Tempels für römische Staatsgötter, zu denen übrigens auch die Kybele gehörte, im Rheinland unwahrscheinlich. Eher könnte es sich bei dem Keller um eine noch nicht bekannt gewordenen Art von Heiligtum für eine einheimische Gottheit, z.B. für die in Neuss verehrte Muttergöttin Sunuxal gehandelt haben. Die Figur einer thronenden Mater sowie zwei weitere Votivterrakotten in Gestalt der Venus und der Fortuna, die sich bis zum 2. Weltkrieg unter den Sammlungsbeständen des Clemens-Sels-Museums in Neuss befanden, weisen ebenfalls auf die Verehrung lokaler Muttergottheiten im römischen "Novaesium" hin.
Aber auch eine völlig andere Deutung des Kellers wäre denkbar: Bei den 42 Münzen, die in der ca. 6 qm umfassenden Kellerverfüllung gefunden wurden, könnte es sich um Weihegaben aus dem benachbarten Heiligen Bezirk handeln. Dieser scheint demnach bis um die Mitte des 4. Jhs. bestanden zu haben. Sofern der Keller nach Aufgabe dieses Heiligen Bezirks angelegt wurde - und hierfür spricht der im Keller verbaute Jupiterweihestein, wäre der Keller erst im späten 4. oder gar im 5. Jh. entstanden. Dann wäre er aber unter Umständen auch als christliche Anlage zu deuten.
Wie immer auch die Interpretation des Kellers ausfallen mag, zwei Sachverhalte bleiben bestehen: Auch 45 Jahre nach der Freilegung des Neusser Kellers sind keine Parallelen zu ihm bekannt. Die Deutung als "Kultkeller" im weitesten Sinne kann nach wie vor aufrecht erhalten werden. In welchem religiösen Kontext der Keller aber zu betrachten ist, läßt sich vorerst nicht klären.
Literatur
- Harald von Petrikovits, Novaesium. Das römische Neuß. Führer des Rheinischen Landesmuseums Bonn 3 (Köln - Graz 1957).
- Harald von Petrikovits, Die Ausgrabungen in Neuß (Stand der Ausgrabungen Ende 1961). In: Bonner Jahrbücher 161, 1961, S. 449-485.