"In seiner unerwartet guten Erhaltung erfordert der Neufund aus Kalkriese eine Revision unseres bisherigen Wissens über den Standard römischer Militärtechnik.", sagt der Archäologe und Geschäftsführer vom Museum und Park Kalkriese Dr. Stefan Burmeister. Obwohl der Schienenpanzer zur festen Ausstattung der römischen Armee gehörte und in römischer Zeit vielfach abgebildet wurde, gibt es kaum Funde, die uns über das reale Erscheinungsbild und die technischen Details dieser Schutzrüstung in Kenntnis setzen. Bislang musste man immer ins englische Corbridge schauen, wo sechs Hälften von Schienenpanzern gefunden wurden. Diese stammen jedoch aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. und sind damit über 100 Jahre jünger als der neue Fund aus Kalkriese.
Das Schicksal eines römischen Legionärs
Bemerkenswert ist auch der Fundkontext des Schienenpanzers. Im Hals-/Schulterbereich lag eine so genannte Halsgeige. Das ist ein typisches Fesselungsinstrument, das die Hände am Hals fixiert und die Handlungsfähigkeit des so Gefesselten wirkungsvoll einschränkt. Halsgeigen wurden in der römischen Armee mitgeführt, um vor allem Kriegsgefangene, deren Schicksal die Sklaverei war, zu fesseln. Die gesamte Fundsituation legt nahe, dass hier ein römischer Legionär als Überlebender des Gefechts von den germanischen Siegern mit dem römischen Unterwerfungssymbol gefesselt wurde. "Der Schienenpanzer ist damit nicht bloß ein einzigartiges archäologisches Fundstück, sondern ebenfalls Teil einer tragischen Szene, die sich hier abbildet. Wir sehen neben all den bisherigen römischen Funden vom Schlachtfeld erstmals ein individuelles Schicksal auf dem Fundplatz Kalkriese, das die schreckliche Seite des Krieges zeigt", erklärt Burmeister.
Die Entdeckungsgeschichte
Entdeckt wurde der Schienenpanzer bei archäologischen Ausgrabungen in Kooperation mit der Universität Osnabrück im Jahr 2018. Dass es sich um einen weitgehend vollständig erhaltenen Schienenpanzer handelt, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Das Wissenschaftlerteam erahnte lediglich ein sehr großes Metallobjekt im Boden. Um den Fund fachgerecht freilegen zu können, entschied man sich für die Bergung im Block. Ein in der Archäologie gängiges Vorgehen, um den Fund im Anschluss unter Laborbedingungen in der Restaurierung auszugraben.
Vor der Freilegung des Blocks, der mit einer Größe von 1,25 m x 1,00 m rund 500 kg auf die Waage gebracht hat, sollte jedoch Licht ins Dunkel gebracht werden. Die erste Reise führte den Block in die große Röntgenanlage des Zollamtes des Flughafens Münster/Osnabrück. Doch das umgebende Erdreich schirmte den metallischen Inhalt so gut ab, dass lediglich klar war, dass es sich hier wirklich um ein sehr großes und metallisches Objekt handeln muss. Die Reise ging weiter: ins Fraunhofer-Entwicklungszentrum Röntgentechnik EZRT des Fraunhofer-Instituts für Integrierte Schaltungen IIS in Fürth. Hier steht das weltweit größte öffentlich zugängliche Computertomographie-System. Die sogenannte XXL-CT erschließt die einzigartige Möglichkeit, großvolumige Objekte vollumfänglich dreidimensional zu erfassen. Durch den Einsatz hoher Röntgenenergien von bis zu neun Megaelektronenvolt wird eine gute Durchdringung des Blocks erzielt, sodass eine besonders dichtetreue Abbildung von unterschiedlichsten Materialien möglich wird. Die räumliche Auflösung liegt dabei im Bereich unterhalb eines Millimeters.
Gescannt wurde der Block mit insgesamt 1500 Bildern während einer über mehrere Tage dauernden 360-Grad-Drehung. "Mit unseren CT-Anlagen ergeben sich ganz neue Möglichkeiten. Wir können Unsichtbares sichtbar machen. Das ist ein wichtiger Schritt zur virtuellen Erfassung historisch bedeutsamer Objekte in Sammlungen und Museen", berichtet Katrin Zerbe, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fraunhofer-Entwicklungszentrum Röntgentechnik EZRT in Fürth. "Mein persönliches Highlight in diesem Projekt ist, Teil eines interdisziplinären Teams zu sein. Als Physikerin zusammen mit Bodenkundlern und Archäologen auf Spurensuche zu gehen, war eine tolle Möglichkeit ein ganz neues Themengebiet kennenzulernen", so Zerbe weiter.
Mit einer E-Mail aus Fürth kam dann endlich Licht ins Dunkel: Es handelt sich tatsächlich um einen römischen Schienenpanzer. Der Schienenpanzer wird zurzeit in einem aufwändigen Restaurierungsprozess nach und nach, Platte für Platte freigelegt. Durch die obenliegende Erde sind die einzelnen Bestandteile der Rüstung zusammengedrückt – wie bei einer Ziehharmonika sind die Platten über die Zeit ineinandergeschoben worden. Die Platten im Schulter- und Brustbereich sind entnommen und zum Teil schon restauriert. Die Bauchplatten sind noch im Block und werden in den kommenden Monaten freigelegt. "Trotz der schlechten Erhaltungsbedingungen durch den sauren und sandigen Boden in Kalkriese ist der Schienenpanzer in seiner Komplexität relativ gut erhalten. Scharniere, Schnallen und die Bronzebeschläge sind gut erkennbar. Und wir haben sogar organische Bestandteile, wie Reste von Leder", so Rebekka Kuiter, Restauratorin im Museum und Park Kalkriese. Nach derzeitigem Erkenntnisstand besteht der Kalkrieser Schienenpanzer aus 30 einzelnen Platten; es fehlen lediglich vier bis fünf Platten.
Das wissenschaftliche Projekt zur Erforschung des Schienenpanzers wird ermöglicht durch eine Förderung der Stiftung Niedersachsen. "Ohne Forschung, keine Erkenntnisse, ohne Erkenntnisse, kein Ausstellen und Vermitteln und somit auch kein Lernen über und von der Vergangenheit. Die Grundlage unserer heutigen Gesellschaft versteckt sich zum Teil in kleinsten archäologischen Funden und möchte erforscht werden.“ erläutert die Generalsekretärin der Stiftung Niedersachsen, Lavinia Francke.
Der römische Schienenpanzer
Der den Oberkörper schützende Schienenpanzer ist eine römische Erfindung der frühen Kaiserzeit. Gegenüber dem bis dahin gebräuchlichen Kettenhemd bot der Schienenpanzer etliche Vorteile. Mit rund 8 kg war er nur halb so schwer und ließ sich schneller und effizienter fertigen als das Kettenhemd. Einzelteile konnten bei Verlust leichter ersetzt oder im Schadensfall leichter ausgetauscht werden. Damit brachte der Schienenpanzer wirtschaftliche und logistische Vorteile bei der Versorgung der römischen Armeen mit sich. Auch im Kampf bot er durchaus bessere Eigenschaften im Schutz vor Verletzungen als das Kettenhemd. Bis ins 4. Jahrhundert gehörte der Schienenpanzer zur Standardausstattung der römischen Legionäre.
Der nun vorliegende Fund eines annähernd vollständigen Schienenpanzers aus Kalkriese erfordert eine Revision der bisherigen Vorstellungen von den Anfängen dieser Körperpanzerung. Der neue Fund lässt eine herausragende handwerkliche Qualität erkennen, die einen großen Tragekomfort erzeugen sollte. Die frühere Annahme technisch unausgereifter Lösungen bei der Verbindung der einzelnen Platten kann nicht bestätigt werden; hier entspricht der Kalkrieser Panzer den deutlich jüngeren Rüstungen aus Corbridge. Insgesamt lässt sich hingegen ein Trend zur Vereinfachung und handwerklichen Qualitätsminderung feststellen. Am Anfang der Entwicklung steht eine aufwändige und technisch bereits belastbare Konstruktion; der Aufwand bei der Fertigung wurde mit der Zeit anscheinend jedoch reduziert.
Ging man bisher davon aus, dass die Schienenpanzer durch die Jahrhunderte sich vielleicht in technischen Details der Schließmechanismen unterschieden, ansonsten in ihrem Aufbau jedoch einheitlich waren, so muss auch das korrigiert werden. Die Schulterpartie des neuen Fundes zeigt einen vom bisher bekannten und angenommenen grundlegend abweichenden Aufbau: Der Schienenpanzer aus Kalkriese entspricht mehr einer Weste bzw. einem Trägerhemd, da er keine Schienen an den Oberarmen hat und diesen damit keinen Schutz bot. Hier scheinen die römischen Waffenschmiede später nachjustiert zu haben.
Vom Fundstück zum Museumsobjekt
Für Besucherinnen und Besucher ist ein kurzer Film rund um den Schienenpanzerfund entstanden, der im Museum gezeigt wird. In den kommenden Monaten werden Museum und Park Kalkriese mit vielen Beiträgen und Filmen auf Facebook und Instagram einen Blick hinter die Kulissen ermöglichen. Im Jahr 2023 ist eine Sonderausstellung zu den Forschungen in Kalkriese geplant, die den Schienenpanzer in den Fokus nimmt. "Nach der römischen Reitermaske, die mittlerweile zum Erkennungszeichen für Kalkriese geworden ist, bietet der Fund eines nahezu vollständig erhaltenen Schienenpanzers im Kontext mit der Halsgeige im Umfeld ganz neue Möglichkeiten der Präsentation“, freut sich Museumsleiterin Dr. Heidrun Derks. "Und wir können hier, wie es aussieht, zum ersten Mal die ganz persönliche Geschichte eines römischen Legionärs erzählen.“