Die Seeufersiedlungen von Concise (Vaud, CH) am Neuenburgersee
Eine Referenzfundstelle für die Erforschung des westschweizerischen Neolithikums und der Bronzezeit
Zwischen 1990 und 2000 begleitete die kantonale Denkmalpflege in Lausanne das lineare Großprojekt "Bahn 2000" am Nordufer des Neuenburgersees. Die 30 neu entdeckten Fundstellen werfen ein völlig neues Licht auf die prähistorische Siedlungsdichte dieses archäologisch bisher nur ungenügend erforschten Gebietes. Das Hauptaugenmerk des gesamten Projektes mußte auf eine Seeufersiedlung gelegt werden, die durch die neue Trassenführung auf einer Fläche von nahezu 5000 m² unmittelbar bedroht war. Das Siedlungsareal gehört zur Gemeinde Concise und befindet sich direkt am Nordufer des Neuenburgersees etwa auf halber Strecke zwischen Neuchâtel und Yverdon. Wichtigstes Anliegen der kantonalen Denkmalpflege war es, die neue Trasse so zu legen, daß nur der landwärtige Teil der Siedlung betroffen war, während das Zentrum weiterhin geschützt im Boden verbleibt.
Daß sich an dieser Stelle eine umfangreiche prähistorische Siedlungskammer befindet, ist bereits seit der Mitte des letzten Jahrhunderts bekannt. Wie es die Geschichte so will, wurde die damalige Entdeckung ebenfalls durch den Bau der ersten Eisenbahnlinie am Jurafuß entlang des Sees hervorgerufen. Für die Errichtung des Bahndammes wurden damals mit Hilfe von großen Kiesschwimmbaggern mehrere tausend m² Kulturschicht zerstört. Bis zu Beginn der Planungen für das Projekt "Bahn 2000" gab es in dem seit 1900 als besonders schützenswert deklarierten"monument historique" keine archäologischen Interventionen mehr. Deshalb war auch völlig unklar, mit welcher Schichterhaltung und -mächtigkeit zu rechnen war. Schon die ersten Sondagen zeigten, daß in weiten Teilen des bedrohten Areals noch eine intakte Stratigraphie mit archäologischen Schichten in einer Mächtigkeit von bis zu 3m existierten. Bereits dadurch war klar geworden, daß Concise zu den bedeutendsten Pfahlbausatationen des gesamten nordalpinen Raumes gerechnet werden mußte.
Nachdem die mannigfaltigen technischen Probleme gelöst werden konnten (die bestehende Eisenbahnlinie mußte immer in Betrieb bleiben; hoher Wasserdruck aufgrund der unmittelbaren Nähe zum See; Abpumpen des permanent eindringenden Grund- und Hangwassers) wurde schließlich ein Projekt realisiert, das alle wichtigen Forderungen einlösen konnte, d.h. es zog keine baulichen Verzögerungen nach sich, der finanziell abgesteckte Rahmen wurde eingehalten und auch die korrekte und vernünftige archäologische Dokumentation und Bergung der Befunde und Funde war gewährleistet. In drei Etappen wurde von November 1995 bis zum März 2000 eine Fläche von 5000 m² vollständig bis auf die anstehenden sterilen Seesedimente untersucht.
Um der wissenschaftlichen Bedeutung der Fundstelle auch nur annähernd gerecht werden zu können, wurde bereits parallel zu den Grabungsarbeiten ein interdisziplinäres Forschungsvorhaben ins Leben gerufen, dem eine ganze Reihe von Naturwissenschaftlern aus den unterschiedlichsten Forschungsbereichen wie der Sedimentologie, der Dendrochronologie, der Pollenanalyse, der pflanzlichen Großrestanalyse, der Archäozoologie, der Malacologie und der Parasitologie angehören. Ziel dieses Unternehmens war und ist es, die spezifisch archäologischen Fragestellungen durch die speziellen Untersuchungsmethoden der jeweiligen Naturwissenschaften zu erweitern, um dadurch ein möglichst plausibles und realitätsnahes Bild prähistorischer Lebensgemeinschaften entwerfen zu können.
Eine Besonderheit von Concise ist ganz sicher die Tatsache, daß die ehemalige Bucht im Laufe der Jahrtausende immer wieder von prähistorischen Menschen zur Besiedlung aufgesucht wurde. Dies führte dazu, daß sich - alternierend mit den sandigen Seesedimenten - nach und nach die einzelnen Kulturschichten übereinander ablagerten und schließlich diese eindrucksvolle Siedlungsabfolge bildete. Stratigraphisch getrennt konnten mehr als 25 verschiedene Dorfanlagen auf engstem Raum nachgewiesen werden. Nach Ausweis der Dendrochronologie verteilen sich diese Dörfer über mehr als drei Jahrtausende zwischen ca. 4500 und 1000 v.Chr. Concise besitzt damit die wohl umfangreichste Abfolge prähistorischer Siedlungen an ein und demselben Ort überhaupt. Aus dieser Tatsache ergeben sich ungeahnte Möglichkeiten, die verschiedenen materiellen, architektonischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen aufzeigen zu können und damit gewissermaßen eine Dorfgeschichte über mehrere Jahrtausende zu schreiben.
Unabdingbare Voraussetzung für dieses Vorhaben ist eine genaue Kenntnis der zeitlichen Parameter. Deshalb wurde bereits parallel zur Ausgrabung mit der dendrochronologischen Untersuchung der Bauhölzer begonnen. In einem ersten Arbeitsschritt wurden sämtliche Eichen gemessen. Ihre Zahl beläuft sich auf ca. 5500 Exemplare, von denen bis heute etwa 4500 jahrgenau datiert werden konnten. Auf diese Weise ist es nicht nur möglich, die Lebensdauer der einzelnen Ansiedlungen zu bestimmen, sondern auch die Zeitabschnitte einzugrenzen, in denen keine prähistorischen Dörfer errichtet wurden. Dies ist ein besonders wichtiger Gesichtspunkt, denn dadurch lassen sich z.B. Überlegungen anstellen, in welchen zeitlichen Dimensionen kultureller Wandel stattgefunden hat.
Kulturgeschichtlich läßt sich festhalten, daß aus nahezu allen bekannten prähistorischen Kulturen der Westschweiz ein oder mehrere Dörfer nachgewiesen werden konnten. Darüberhinaus ist wissenschaftlich besonders bemerkenswert, daß zum einen erstmals in der Westschweiz eine Seeufersiedlung des 5. Jahrtausends v.Chr. entdeckt und zum anderen aus mehreren Zeitabschnitten intakte Kulturschichten angetroffen wurden, die bisher nur sehr schlecht oder gar nicht bekannt waren. Dies betrifft besonders den Beginn des Endneolithikums um 3000 v.Chr. und zwei komplette Siedlungen aus der späten Frühbronzezeit um 1800 und 1600 v.Chr.
Wie bei Seeufersiedlungen so üblich, wurden auch in Concise große Mengen an archäologischen Funden gemacht (ca. 200 000), die sich auf alle Fundgattungen verteilen. Neben Keramikgefäßen und Artefakten aus Feuer- und Felsgestein sind besonders die vielen Objekte aus organischen Materialien hervorzuheben, die sich im feuchten Milieu unter Luftabschluß gut erhalten haben.
Läßt man die nahezu zehn Jahre Revue passieren, die die kantonale Denkmalpflege das Projekt "Bahn 2000" archäologisch begleitete, so fällt die Bilanz sicherlich positiv aus. Derartige lineare Großprojekte bedeuten immer einen schweren Eingriff in die Umwelt und stellen die archäologischen Behörden durch die potentielle Gefährdung einer größeren Anzahl prähistorischer Fundstellen sehr oft vor große administrative und grabungstechnische Probleme, weil dieses enorme Ausmaß von präventiver Denkmalpflege den normalen archäologischen Alltag bei weitem überschreitet. Andererseits darf nicht übersehen werden, daß gerade in heutiger Zeit, in der die Denkmalpflege - auch in der Schweiz - mit finanziellen Problemen zu kämpfen hat, vor allem durch derartige lineare Großprojekte, die vom Bund finanziert werden, wissenschaftliche interdisziplinäre Strategien von überregionaler Bedeutung in einer Größenordnung entwickelt werden können, wie es sonst einfach nicht möglich wäre.
Literatur
- C. Wolf, Die neolithischen und bronzezeitlichen Seeufersiedlungen von Concise-sous-Colachoz (Kanton Vaud) am Neuenburgersee. Nachrichtenbl. Arbeitskreis Unterwasserarch. (NAU) 4, 1998, 27-35.
- Ders., Neue Befunde zur Siedlungsstruktur der westschweizerischen Frühbronzezeit: erste Ergebnisse der Ausgrabungen in den neolithischen und bronzezeitlichen Seeufersiedlungen von Concise-sous-Colachoz (VD). In: Mensch und Umwelt in der Bronzezeit Europas, 541-553. Tagung Berlin 1997 (Kiel 1998).
- Ders. und J.-P. Hurni, Neues zur Architektur des westschweizerischen Endneolithikums: erste Auswertungsergebnisse der Befunde in den Seeufersiedlungen von Concise-sous-Colachoz am Neuenburgersee. Plattform 7/8, 1998/99, 107-117.
- Ders., E. Burri et alii, Les sites lacustres néolithiques et bronzes de Concise-sous-Colachoz (VD): premiers résultats et implications sur le Bronze ancien régional. JbSGUF 82, 1999, 7-38.
Weitere Informationen im Internet
Eine Zusammenstellung des Internetangebotes zum Thema finden Sie im Bereich Seeufersiedlungen im Guide von Archäologie Online