Zur Geschichte des Neandertalerfundes
[1] Zu den schönsten Stellen des landschaftlich ohnehin reizvollen Bergischen Landes gehörte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts das Neandertal bei Düsseldorf. Hier, zwischen Erkrath und Mettmann, hatte das schnell fließende Wasser der Düssel einen Canyon von etwa 500 m Länge durch 40 m starke mitteldevonische Kalkablagerungen gefräst und dabei steil aufragende, senkrechte Felswände mit Klüften, Katarakten und beckenartigen Erweiterungen entstehen lassen [2]. Im Volksmund wurde der Ort "das Gesteins" oder auch "Hunsklippe" genannt, wobei die Bedeutung des letzteren Wortes nicht mehr eindeutig zu klären ist. Der Name "Neanderthal" kam erst in den 20er Jahren des 19. Jh. im Zusammenhang mit einer argen Umweltzerstörung in Gebrauch. Er erinnert an den Bremer Pastor Joachim Neander [3] (1650-1680), Verfasser zahlreicher Kirchenlieder ("Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren"), welcher von 1674 bis 1679 Rektor der Düsseldorfer reformierten Lateinschule war. Neander war ein früher Liebhaber des Gesteins und hatte offenbar viele Stunden auf einer ihm zu Ehren "Neanders Stuhl" genannten Felsklippe zugebracht. Eine darunter befindliche Höhle trug als "Neanders Höhle" ebenfalls seinen Namen. 1821 schlug ein Leser des Rheinisch-Westfälischen Anzeigers erstmnalig die Bezeichnung "Neanders Felsenthal" für das Gesteins vor [4]. Als dann im Zuge der westdeutschen Industrialisierung 1847 in der Nachbarschaft ein Eisenhüttenwerk, die Hochdahler Hütte "Eintracht" entstand, wurde der zur Auskleidung der Hochöfen benötigte Kalk von einer "Actiengesellschaft für Marmorindustrie im Neanderthal" gewonnen. So wurde die Bezeichnung "Neanderthal" offiziell. Der Kalkabbau veränderte den Charakter des Tales so grundlegend, dass heute nichts mehr an die einstigen Felswände, Schluchten und Katarakte erinnert. Nur der Name ist geblieben. Er aber hat internationale Berühmtheit erlangt.
Zu Anfang September des Jahres 1856 erschien in zahlreichen Zeitungen der Gegend gleich lautend die folgende Notiz:
"Mettmann, den 4. Sept., Im benachbarten Neanderthale, dem so genannten Gesteins, ist in den jüngsten Tagen ein überraschender Fund gemacht worden. Durch das Wegbrechen der Kalkfelsen, das freilich vom pittoresken Standpunkte nicht genug beklagt werden kann, gelangte man an eine Höhle, welche im Laufe der Jahrhunderte durch Thonschlamm gefüllt worden war. Bei dem Hinwegräumen dieses Thons fand man ein menschliches Gerippe, das zweifelsohne unberücksichtigt und verloren gegangen, wenn nicht glücklicherweise Dr. Fuhlrott von Elberfeld den Fund gesichert und untersucht hätte.
Nach Untersuchung dieses Gerippes, namentlich des Schädels, gehörte das menschliche Wesen zu dem Geschlechte der Flachköpfe, deren noch heute im amerikanischen Westen wohnen, von denen man in den letzten Jahren auch mehrere Schädel an der oberen Donau bei Siegmaringen gefunden hat. Vielleicht trägt dieser Fund zur Erörterung der Frage bei: Ob diese Gerippe einem mitteleuropäischen Urvolke oder blos einer (mit Attila?) streifenden Horde angehört haben." [5]
Bei der erwähnten Höhle handelte es sich um die kleinere von zwei "Feldhofer Grotten" genannten Aushöhlungen, welche in einer Höhe von 20 m über der Talsohle gegenüber Neanders Stuhl gelegen waren. Die mit dem Ausräumen des Tons beschäftigten Arbeiter hatten die gefundenen Knochen zunächst für Bärenknochen gehalten und achtlos in die Tiefe geworfen. Als sie einem der Steinbruchbesitzer davon erzählten, ließ der die größeren Stücke wieder aufsammeln, um sie bei passender Gelegenheit einem interessierten Naturforscher zu zeigen. So blieben erhalten: eine Schädelkalotte (Schädeldach) mit einem Bruchstück der linken Schläfenschuppe, zwei Oberschenkelknochen, zwei Oberarmknochen, eine rechte Speiche, ein rechtes Ellenfragment, ein rechtes Schlüsselbein, das Fragment eines rechten Schulterblatts sowie eine linke Elle, fünf Rippen und eine fast vollständige linke Beckenhälfte [6]. Von den Arbeitern war später nur noch zu erfahren, dass die Gebeine zwei Fuß unter der Oberfläche in Längsrichtung der Grotte mit dem Kopf zur Mündung hin ausgestreckt gelegen hätten [7].
Einer der Steinbruchbesitzer unterrichtete den Elberfelder Realschullehrer Dr. Johann Carl Fuhlrott [8] (1804 - 1877) von dem Fund und lud ihn ein, die Knochen an Ort und Stelle in Empfang zu nehmen. Der war ein vielseitig interessierter, kenntnisreicher Naturwissenschaftler, der sich in letzter Zeit besonders mit geologischen und zoologischen Studien befasst hatte und dem auch die geologischen Verhältnisse des Neandertals vertraut waren. Fuhlrott erkannte die Knochen als von einem Menschen stammend und schloss bereits auf ein höheres Alter ohne sich jedoch schon jetzt der Bedeutung des Fundes bewusst zu werden. Zu einer näheren Untersuchung des Fundes nahm er diesen mit in seine Wohnung. An der Pressemitteilung hatte er nach eigener Aussage keinen Anteil.
Zu den Lesern der Zeitungsnotiz gehörten zwei Bonner Professoren, der Anatom Franz Josef Mayer (1787 - 1865) und der Anthropologe Hermann Schaaffhausen (1816 - 1893). Die beiden forderten Fuhlrott auf, ihnen den Fund zur Untersuchung zu überlassen. Fuhlrott schickte zunächst nur einen Gipsabdruck der Schädelkalotte. Über dessen Untersuchung berichtete Schaaffhausen erstmalig am 4. Februar 1857 auf einer Versammlung der niederrheinischen Gesellschaft für Natur- und Heilkunde in Bonn [9]. Erst im Winter reiste Fuhlrott selbst nach Bonn, um seine Fossilien dort persönlich zu übergeben. Wahrscheinlich schon bei dieser Gelegenheit stellte Professor F. J. Mayer verästelte Metallablagerungen, so genannte Dendriten, an den Knochen fest. Diese deuteten auf ein hohes Alter hin. Da Geheimrat Mayer aber zu der Zeit kränkelte und nicht arbeitsfähig war, überließ Fuhlrott die Fossilien dem jungen Professor Schaaffhausen. Der verwertete sie zunächst für eine Arbeit "Zur Kenntnis der ältesten Rassenschädel" [10]. Darin verglich er sie mit verschiedenen neolithischen Funden aus Mecklenburg, mit denen zusammen er sie "mit Wahrscheinlichkeit ... einem rohen Urvolk, ...welches vor den Germanen das nördliche Europa bewohnt hat, ... eine weite Verbreitung hatte ... und mit der Urbevölkerung von Britannien, Irland und Skandinavien ... verwandt war" zuschrieb. Im Gegensatz zu Fuhlrott fand er sich indessen nicht bereit, ihnen ein eiszeitliches Alter zuzugestehen [11].
Es blieb Fuhlrotts Schicksal, dass bis zu seinem Lebensende kein angesehener deutscher Wissenschaftler den Mut hatte, das tatsächliche Alter von etwa 50.000 Jahren und damit die die große Bedeutung des Fundes anzuerkennen. Dazu mag beigetragen haben, dass eine so hoch angesehene Autorität wie Rudolf Virchow (1821 - 1902) noch bis kurz vor seinem Tod darauf bestand, es handele sich um die Knochen eines an Rachitis erkrankten neuzeitlichen Menschen. Man wagte es im damaligen Deutschland nicht, sich auf eine Deutung einlassen, welche die herrschende kirchliche Lehre einschließlich der vermeintlich gottgewollten Gesellschaftsordnung radikal in Frage stellen würde.
1859 erschien in Großbritannien Charles Robert Darwins (1809 - 1882) zweibändiges Werk "On the origin of species by means of natural selection". Begreiflicherweise löste seine revolutionäre Theorie heftige Diskussionen aus. Dadurch gewann der Fund aus dem Neandertal für britische Forscher eine besondere Aktualität. Der hoch angesehene schottische Geologe Sir Charles Lyell (1797 - 1875) hatte vermutlich schon im August 1857 bei einem Bonner Aufenthalt davon erfahren, zumal er freundschaftliche Kontakte zu den dortigen Professoren unterhielt. 1860 besuchte er Fuhlrott, ließ sich von ihm das Neandertal zeigen und bestätigte das hohe Alter der Fossilien, die er auf die Riss-Würm-Zwischeneiszeit im Mittelpleistozän datierte. In seinem Buch Geological Evidences of the Antiquity of Man vertrat er 1863 die These, der Mensch müsse sich aus irgend einem nächst niederen Tier entwickelt haben. Ihm folgend gab der irische Professor William King (1809 - 1866) in einem Vortrag vor der Geologischen Sektion der British Association for the Advancement of Sciences vom Spätsommer 1863 Fuhlrotts Fund nach ausführlicher Diskussion der Schädelform und seiner Unterschiede zu bisher bekannten Schädeln den Namen "Homo Neanderthalensis King" [12].
Zur Zeit der Namengebung wurde das deutsche Wort "Tal" noch mit th geschrieben. Nach Artikel 19 der internationalen Regeln Zoologischer Nomenklatur bleibt es bei der ursprünglichen Bezeichnung, wenn sie nicht auf einem Irrtum oder Druckfehler beruht. So hat auch der Neandertaler in seiner offiziellen lateinischen Bezeichnung das th behalten. Der Namenszusatz "King" entspricht ebenfalls internationalem Brauch zu Ehren entweder des Entdeckers oder des Taufpaten. Im vorliegenden Fall entbehrt er allerdings nicht einer gewissen Ironie. King selbst machte nämlich schon ein Jahr später einen versteckten Rückzieher, indem er in einer Fußnote zum letzten Satz eines Aufsatzes mit dem Titel "The reputed fossil man of the Neanderthal" [13], erklärte, er neige jetzt zu der Meinung, es würde sich weder der Art noch der Gattung nach um einen Menschen handeln. Der Widerruf wurde nicht allzu ernst genommen, zumal der Zoologe Thomas Henry Huxley ( 1825 - 1895) ihm energisch widersprach [14].
Eindeutige Aussagen über unsere Verwandtschaftsbeziehungen zum Neandertaler werden sich wohl erst nach einer vollständigen DNS-Analyse machen lassen. Bisherige Untersuchungen deuten zwar darauf hin, dass zumindest die Späten Neandertaler keinen Beitrag zum Genpool des heutigen Menschen geleistet haben. Es verdient jedoch hervorgehoben zu werden, dass die bisherigen Analysen nur die ausschließlich in der mütterlichen Linie vererbte mitochondriale (mt-)DNS betreffen. Ein männlicher Vertreter dieses Menschentyps irgendwo in unserer Ahnentafel ist deshalb nach wie vor nicht auszuschließen.
Fußnoten
Vgl. hierzu: E. Leverkus, Wie der Neandertaler zu seinem Namen kam, Stuttgart (Reinsburg Verlag), 1999 ↩
siehe Hanna Eggerath, Im Gesteins, das ursprüngliche Neandertal in Bildern des 19. Jhs, Köln (Wienand), 1996 ↩
über ihn: K. Vormbaum, J. Neanders Leben und Lieder, 1860; J. F. Ilken, Joachim Neander, 1880; W. Nelle, Joachim Neander, der Dichter der Bundeslieder und Dankpsalmen, 1904; L.Esselbrügge, Neander (Marburger Diss.), 1921; H. Ackermann, Joachim Neander. Sein Leben, seine Lieder, sein Tal, 1980 ↩
H. Eggerath, a.a.O, S. 40 ff. ↩
Elberfelder Zeitung Nr. 212 v.6. Sept. 1856. Urheber dieser Notiz war vermutlich der rheinische Schriftsteller und Volksliedsammler A. W. F. von Zuccalmaglio (vgl. Ursula Zängl-Klumpf, Zuccalmaglio und die Entdeckung des Neandertalers, in: Bonner Jahrbücher 187 (1987), S. 367 ff. und die dort zitierte Arbeit von P. Herder in: Romerike Berge 3 (1981) S. 22 ff. ↩
1998 gelang es, Reste der in die Schlucht geschaufelten Sedimentfüllung wieder aufzufinden. Weitere Untersuchungen förderten schließlich sogar noch zu dem ursprünglichen Fund passende Knochenfragmente zu Tage. ↩
Vgl. C. Fuhlrott, Menschliche Überreste aus einer Felsengrotte des Düsselthals, in: Verhandlg. d. naturhistorischen Vereins d. preußischen Rheinlande und Westphalens, 16 (1859) S. 134 ↩
über ihn: W. Bürger, Johann Carl Fuhlrott, der Entdecker des Neandertalmenschen, 3. Aufl., 1956 ↩
vgl. Verhdlg. d. naturhist. Vereins d. preußischen Rheinlde. U. Westphalens, XIV (1857) ↩
abgedruckt sowohl in: J. Müllers Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medizin, Heft 5 (1858) als auch in; Jahrb. D. Vereins f. mecklenburg. Geschichte u. Altertumskunde3, aus den Arbeiten des Vereins, 24. Jg. (1859), S. 187 ff. ↩
vgl. hierzu auch: Verhandlg. d. naturhist. Vereinsder preußischen Rheinlde. U, Westphalens, 16. Jg., Neue Folge, 6. Jg., (1859) Bonn, S. 153 ↩
William King,On the Neanderthal Skull, or Reasons for believing it to belong to the Clydian Period and to a Species different from that represented by Man, in: Reports of the British Ass. For the Advancement of Science (1863), Notices and Abstracts, S. 81 f.
↩in: The Quarterly Journal of Science, Vol. I (1864), S.88-97.
↩T. H. Huxley, Further remarks upon the human remains from Neanderthal, in: Nat. Hist. Rev. XV,(1864), S. 429 ff. ; deutsch im Archiv f. Anatomiw, Physiologie und wiss. Medizin, (1865) Heft 1, S. 1 ff. ↩