Von Sternen und Schweinen
Religiöse Astronomie im Alten Ägypten
Die mythologische Ausdeutung astronomischer Phänomene ist von eminenter Bedeutung für die ägyptische Religion. Tatsächlich ist die überwiegende Zahl von Quellen dem zuzuordnen, was ich „Religiöse Astronomie“ nenne. Diese wurden bislang in Studien zur ägyptischen Astronomie meist ignoriert, da sie gar nicht als astronomische Aussagen erkannt wurden. Sie sind aber durchaus brauchbar, da sie einen erheblich weiteren Einblick in die Kenntnisse der Ägypter erlauben, als das wenige mehr oder minder mythenfreie Material. Allerdings bedarf es dabei höchster methodischer Umsicht, um nicht in Phantastereien zu verfallen, die nicht abzusichern sind.
Rein abstrakte mathematische Astronomie ist hingegen äußerst selten belegt. Dies muß auch nicht verwundern, da die erhaltenen Quellen fast ausschließlich aus der Deckendekoration von königlichen und privaten Gräbern und Särgen sowie Tempeln stammen. Dort wurden sie aber natürlich nicht angebracht, um heutigen Forschern zu präsentieren, über welche wissenschaftlichen Kenntnisse man schon verfügte, sondern eben weil die Ägypter religiöse Konzepte damit verbanden. So sehr die Forschung diesen Fokus auf die religiös-mythische Dimension teils belächelt, teils beklagt hat, so sollte man ehrlicherweise sagen, daß wir ohne ihn vermutlich fast überhaupt nichts über die ägyptische Astronomie wüßten.
Nimmt man das Konzept der Religiösen Astronomie jedoch ernst und läßt sich darauf ein, so tut sich eine faszinierende Gedanken- und Bildwelt auf, die bei aller phantastischen Farbigkeit letztlich doch auf sehr exakten Naturbeobachtungen beruht. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Himmelsphänomenen war also durchaus vorhanden, nur wurden die Ergebnisse in Mythen, nicht in abstrakte Theorien gefaßt. Oder vielleicht sollte man treffender sagen, die naturwissenschaftliche Theorie der Ägypter war der Mythos.
Der Himmel über Ägypten
Konstitutive Elemente des ägyptischen Himmels sind Sonne, Mond, Planeten, Sothis, Orion, der Große Wagen und die Dekane. Der Himmel selbst wird als Göttin Nut personifiziert, die auch als Mutter der an ihr entlangziehenden Himmelskörper vorgestellt wird. Ihr Partner ist der Erdgott Geb.
Sonne, ...
Der falkenköpfige Sonnengott Re war eine der höchstrangigen männlichen Gottheiten. Daß der Name ganz wörtlich »Sonne« heißt, zeigt sich daran, daß er in späten Texten tatsächlich öfters mit dem maskulinen Artikel versehen wurde. Allerdings konnte die Sonne je nach Tageszeit auch andere Gestalten und Namen annehmen. Insbesondere die Morgen- und Abendformen entwickelten sich als Chepri (»der Entstehende“) und Atum (»der Vollendete«) zu eigenständigen Gottheiten. Re und Atum galten auch als Schöpfergötter. Atum beispielsweise steht am Beginn der wichtigsten konsistent ausgearbeiteten Göttergenealogie über mehrere Generationen. Seine Kinder sind Schu (je nach Schreibung sowohl als »Luft« bzw. »Licht« übersetzbar) und Tefnut (vermutlich »die Ausgespuckte«, bezogen auf einen entsprechenden Mythos, dabei ist aber wohl an ein feuerspeiendes Wesen gedacht, denn Tefnut hat eine feurige Natur). Diese wiederum zeugten Geb und Nut, von denen Isis, Osiris, Nephthys (»Herrin des Hauses“) und Seth abstammen. Isis schließlich empfing posthum von Osiris den Gott Horus (»der Ferne«).
... Mond ...
Anders als Re, die Sonne, wurde der Mond unter dem eigentlichen Namen für das Gestirn, Iah, nie sehr populär. Unter anderen Namen, die jeweils eine bestimmte, unter anderem mit dem Mond assoziierte Gottheit bezeichnen, spielte er gleichwohl eine bedeutende Rolle. Die wichtigsten Mondgottheiten waren der ibisköpfige Weisheitsgott Thot, der falkenköpfige Chons (»der Wanderer«), der ebenfalls falkenköpfige Horus, bzw. sein verletztes und wieder geheiltes Auge, und Osiris, der andererseits auch mit dem Sternbild Orion gleichgesetzt wurde. Am Mond faszinierte besonders sein monatlicher Zyklus von Ab- und Zunahme, um den sich zahlreiche Mythen rankten. Auch die einzelnen Mondphasen konnten personifiziert werden.
... und Sterne
Während Sonne und Mond von zentraler Bedeutung im religiösen Leben jedes Ägypters waren, blieben die Planeten ein eher esoterischer Gegenstand priesterlicher Spekulation. Sie wurden im Laufe der Geschichte mit unterschiedlichen Gottheiten identifiziert, wobei jedoch verschiedene Horusformen stets dominierten.
Von überragender Bedeutung ist hingegen wieder Sothis (»die Spitze“), obwohl auch sie, wie der Mond, mehr Prominenz unter anderen Namen besitzt, als unter der eigentlichen astronomischen Bezeichnung. Sie ist ursprünglich ein Sternbild aus drei Sternen, darunter dem Sirius. Dieser ist so bedeutend, daß die beiden anderen Sterne eigentlich keine Rolle spielen und später ganz wegfallen. So wie Re mit verschiedensten männlichen Gottheiten gleichgesetzt werden konnte, so wurde Sothis zur Identifikationsfigur verschiedenster weiblicher Gottheiten. Besonders eng ist ihre Verbindung einerseits zu Isis, andererseits zu Tefnut, der Tochter des Sonnengottes, bzw. mit ihr gleichgesetzten Gestalten wie der Liebesgöttin Hathor (»Haus des Horus«) und der Seuchengöttin Sachmet (»Die Mächtige«). Als Isis ist sie die Partnerin zu Osiris-Orion. Als Tefnut und mit ihr verbundene Göttinnen ist sie die Hauptgestalt eines der wichtigsten Mythenkomplexe, der große Auswirkungen auf das Fest- und Ritualgeschehen im Jahreslauf hatte, den Mythenkreis um die Gefährliche Göttin.
Mythen um die Schöpfung
Diese Vorstellungen gliedern sich in zwei Hauptkomplexe. Im »Buch von der Himmelskuh« wird berichtet, wie die Menschen gegen den alt gewordenen Sonnen- und Schöpfergott rebellierten, der daraufhin seine Tochter in die Wüste ausschickt, um sie zu töten. Im letzten Moment bereut er jedoch seinen Entschluß. Er läßt Bier brauen, blutrot färben und auf der Erde ausgießen. Als die Göttin frühmorgens kommt, um ihr Vernichtungswerk zu beginnen, sieht sie das vermeintliche Blut und beginnt es zu trinken. Erwartungsgemäß berauscht sie sich gehörig, was ihre Mordlust besänftigt. Damit sind die Menschen gerettet.
Der Konnex dieser Episode zu der zweiten, dem sog. Mythos vom Sonnenauge, auch bekannt als Mythos von der Fernen Göttin, wird kaum je explizit ausgesprochen, ist aber fraglos vorhanden. Er läßt sich nach einer Stelle in den sogenannten Sargtexten dergestalt rekonstruieren, daß Tefnut, das ausgesandte Sonnenauge, bei ihrer Rückkehr feststellen mußte, daß ein neues Auge an ihrer Statt gewachsen war, was sie sehr verdroß. Das Problem wurde schließlich dadurch gelöst, daß der Sonnengott sie als Uräusschlange auf seinen Kopf setzte.
Der Mythos elaboriert vorwiegend, was dazwischen geschah. Tefnut entfernte sich im Zorn von ihrem Vater Atum und zog sich nach Punt zurück. Dabei handelt es sich um ein südöstlich von Ägypten gelegenes afrikanisches Land, vielleicht etwa in der Gegend des heutigen Somalia. Vater und Brudergemahl vermissen sie. Schu selbst bzw. der Gott Thot ziehen aus, um Tefnut zurückzuholen. Die Göttin ist immer noch wütend und muß durch Geschichtenerzählen, Musik und Tanz mühevoll überredet und besänftigt werden. Diese Fassung liegt dem demotischen Mythos vom Sonnenauge zugrunde, der die Unterhaltung von Thot, der als »kleiner Hundsaffe« bezeichnet wird, mit der als »äthiopische Katze« bezeichneten Tefnut detailliert wiedergibt. Dabei wechseln sich tiefsinnige philosophische Erörterungen mit moralistisch interpretierten Tierfabeln ab.
Der astronomische Hintergrund der Mythen
Hintergrund der verschiedenen Mythen über die ferne und wieder zurückkehrende Göttin ist dabei die genaue astronomische Beobachtung des Verhaltens der Sothis, bzw. speziell des Sirius im Jahreslauf. Dieser besonders hell strahlende Stern ist nämlich eine Zeit lang im Jahr sichtbar, dann aber für eine gewisse Zeit lang nicht. Nach einer Unsichtbarkeitsphase von ca. 70 Tagen (die kanonisch gewordene Zahl stimmt astronomisch in historischer Zeit nicht mehr ganz) ging das Sternbild morgens unmittelbar vor Sonnenaufgang wieder auf und wurde gleich darauf von der aufgehenden Sonne überstrahlt. Einen solchen Aufgang nennt man heliakischen Frühaufgang. Das Aufsetzen des flammenden Uräus auf den Kopf des Sonnengottes ist nichts anderes als ein mythisches Bild für diesen heliakischen Siriusaufgang.
Sothis war nicht nur wegen ihrer Helligkeit so wichtig, sondern vor allem deshalb, weil ihr heliakischer Frühaufgang etwa gleichzeitig mit dem Einsetzen der jährlichen Nilüberflutung stattfand. Da diese die Grundlage der Landwirtschaft und damit allen Lebens in Ägypten war, handelte es sich um ein höchst bedeutsames Ereignis. Allerdings auch um ein nicht ganz ungefährliches, denn die feuchte Jahreszeit beförderte auch das Auftreten von Infektionskrankheiten, namentlich der sogenannten »Seuche des Jahres«. Die Ägypter sahen nun eine kausale Verbindung zwischen beiden Phänomenen. Dies wurde begünstigt durch die Beobachtung, daß Sirius beim Aufgang zunächst scheinbar rötlich wirkt, später dann blau. Rot ist in ägyptischer Farbsymbolik eine gefährliche, unter anderem mit Wut assoziierte Farbe, Blau hingegen eine positive, die »Kühle« bedeutet.
Der Kult der Gefährlichen Göttin
So entstand die Vorstellung von der zornig zurückkehrenden Göttin, die Seuchen verbreitet und deshalb besänftigt werden muß. Die dazu durchgeführten Rituale nahmen Bezug auf die Mythen, d.h. so wie dort Musik, Tanz und Alkohol eine wesentliche Rolle spielten, so taten sie es auch im Ritual. Eine wichtige Opferhandlung bestand beispielsweise im Darbringen des sog. Menukruges, einer Art alkoholischem Cocktail, unter Gesang eines Liedes, das die Bestandteile der Mixtur religiös überhöht.
Auch die Gläubigen selbst feierten feucht-fröhlich. Nicht umsonst ist ein beliebtes Epitheton der Hathor »Herrin der Trunkenheit«. Textquellen zufolge dürfte die Ritualmusik, bei der insbesondere Rhythmus- und Perkussionsinstrumente wie das Sistrum und verschiedene Trommeln zum Einsatz kamen, einen recht ekstatischen Charakter gehabt haben. Auch auf erotisch-orgiastische Praktiken gibt es Hinweise. Als Herodot im 5. Jh. v. Chr. Ägypten bereiste, beschrieb er ein entsprechendes Fest, das in Bubastis für die ebenfalls in diesen Umkreis gehörende Katzengöttin Bastet gefeiert wurde. Noch unpublizierte Papyri enthalten dazu passende Gesänge, die einerseits eine Fülle dunkler religiös-philosophischer Anspielungen, andererseits aber auch Passagen mit Beschimpfungen einer mit Seth assoziierten »gegnerischen« Gruppe enthalten, die zum obszönsten gehören, was uns aus Ägypten erhalten ist.
Der Große Wagen
Seth als mythischer Antagonist von Osiris und Isis spielt diese Rolle auch astronomisch. Am Himmel wird er bevorzugt mit dem Großen Wagen identifiziert, den die Ägypter sich als Dächsel bzw. als Stierschenkel vorstellten. Besonders letztere Form ist bildlich gut belegt. Dem Mythos zufolge wurde Seth in Stiergestalt als Strafe ein Vorderbein abgeschnitten und unter Bewachung anderer Gottheiten an den Himmel versetzt. Dort wurde das Bein bzw. Seth selbst an einem Messer aus Feuerstein angepflockt, damit er nicht in die Unterwelt eindringen und dort Osiris erneut schädigen könne. So erklärte man sich, wieso das Sternbild des Großen Wagens zirkumpolar war und nicht unter den Horizont tauchte. Allerdings gilt dies nur für die älteren Phasen der ägyptischen Geschichte. Bereits im Neuen Reich, d.h. um ca. 1300 v. Chr., hatte sich durch die Präzession, d.h. die langsame Verschiebung der Erdachse, der sichtbare Himmelsausschnitt soweit verändert, daß der Große Wagen tatsächlich fallweise unter den Horizont sinken konnte. Daß dies den Ägypter keineswegs verborgen blieb, belegt ein Text aus dieser Zeit, der dem Gott Thot, der auch sonst gelegentlich der Komplizenschaft mit Seth verdächtigt wurde, vorwirft, den Haltepflock des Seth gelockert zu haben, so daß dieser in die Unterwelt eindringen konnte. Gewiß mythisch eingekleidet, und dennoch - eine akkurate Beobachtung der Präzession, mehr als ein Jahrtausend vor Hipparch!
Die Dekane
Sothis gehört selbst zu den Dekanen, Orion besteht mindestens teilweise aus solchen. Diese sind eine Gruppe von 36 Sternbildern bzw. Teilen davon in der südlichen Hemisphäre, von denen jeweils alle zehn Tage ein neues auf und ein anderes untergeht. Es gab mehrere unterschiedliche Listen davon, die jedem wiederum eine bestimmte Gottheit zuordneten. Ihre genaue Position und Identifikation ist allerdings bislang nicht gelungen. Sie waren essentiell notwendig für die Zeitmessung. Sogenannte Diagonalsternuhren zeigen dazu benutzte Sternlisten, die Diagonale folgt der Bewegung des Sternbildes. Solche Uhren sind fast ausschließlich als Dekoration auf der Innenseite von Sargdeckeln aus der 11. und 12. Dynastie (ab ca. 2050-1850 v. Chr.) überliefert, dürften praktisch aber erheblich früher bereits gebraucht worden sein. Auf den Sargdeckeln stehen die Uhren symbolisch für die Nachtstunden während der Totenwache.
Die Dekane stellte man sich auch in unterschiedlicher Gestalt vor. Neben einer menschengestaltigen Reihe gab es auch eine weitgehend schlangengestaltige. Diese stellte besonders den dämonischen Aspekt dar, der mit der Gefährlichen Göttin verbunden war. Ab dem späten Neuen Reich waren daher Dekanamulette zum Schutz vor Krankheiten bei Frauen und Kindern sehr beliebt. Sie sind aus grüner Fayence hergestellt, wobei die Farbe die erwünschte Besänftigung bereits impliziert. Die Schlangen haben menschliche Arme und Hände, in denen sie Weinkrüge halten, mit denen die Gefährliche Göttin trunken gemacht werden soll.
Himmelsdarstellungen und Texte nennen auch noch andere Sternbilder und Himmelsphänomene, die sich jedoch noch jeglicher Identifizierung entziehen. Beispiele für umfängliche Himmelsdarstellungen sind etwa die Vertreter des Klassischen Himmelsbildes, das sich in vielen Königsgräbern findet, oder das berühmte runde Himmelsbild von Dendara. Letzteres zeigt auch eine bedeutende Innovation, die die ägyptische Astronomie entscheidend veränderte, nämlich die in der Spätzeit aus Mesopotamien eingeführten Tierkreiszeichen.
Deren Import hatte unter anderem eine völlige Veränderung des Dekankonzeptes zur Folge. Nun wurden die 36 Dekane auf die 360° des Zodiakos verteilt, also je drei pro Tierkreiszeichen. Sie werden damit aber von ihren ursprünglichen Sternbildern getrennt und wandeln sich in der Folgezeit immer mehr zu rein ideellen Konstrukten.
Aus Astronomie wird Astrologie
Die sich in dieser Zeit aus einer Mischung aus älteren einheimischen Traditionen und neu importiertem mesopotamischen Gedankengut entwickelnde Astrologie war im spätzeitlichen Ägypten sehr bedeutend, wie zahllose astrologische Traktate in ägyptischer Sprache und Schrift aus den Tempelbibliotheken des Fayum zeigen. Diese Traktate beweisen eindeutig, daß die astrologischen Theorien, wie sie sich später in griechischen Texten über die gesamte antike Welt ausbreiteten, zu weiten Teilen auf ägyptischen Quellen fußen. Dies zeigt sich z.B. daran, daß das noch heute für die Waage gebräuchliche Symbol auf die ägyptische Horizonthieroglyphe zurückgeht. In den ägyptischen astrologischen Texten wird die Waage nämlich mit dem Wort für Horizont bezeichnet.
Handbücher des Himmels
Daß es auch in älterer Zeit bereits regelrechte astronomische Handbücher gab, belegen verschiedene Quellen, doch sind die Texte selbst meist nicht überliefert. Nur Titel sind erhalten, die z.B. „Die Bewegungen der beiden Leuchten kennen und die Dekane beherrschen“ lauten. Bislang ist nur ein einziges derartiges Werk bekannt, das tatsächlich zu weiten Teilen auf uns gekommen ist. Es besaß offensichtlich für die Ägypter selbst eine gewisse Bedeutung, da es davon allein neun erhaltene Textzeugen gibt, die von 1300 v. Chr. bis ca. 140 n. Chr. datieren. Tatsächlich spricht jedoch einiges dafür, daß der Urtext bis ins 3. Jahrtausend v. Chr. zurückreicht. Dieses Werk war in der Forschung bislang als Nutbuch bekannt, ein Notname, der gewählt wurde, weil die Himmelsgöttin Nut in den illustrierten Fassungen prominent erscheint. Der Originaltitel lautet dagegen „Grundriß des Laufes der Sterne“, was bereits recht gut den Inhalt charakterisiert.
Der Text ist in mehrere deutlich voneinander abgrenzbare Abschnitte eingeteilt. Das erste dieser „Kapitel“ befaßt sich mit dem Sonnenlauf während eines Tages und dem Verhalten der Dekansterne im Verhältnis dazu. Einige der Textzeugen illustrieren diesen Teil mit einem Bild der Himmelsgöttin Nut, an deren Leib die Sonne in verschiedenen Stadien ihres Tageslaufs erscheint. Die illustrierten Fassungen enthalten nun überdies auch zwei Listen der Dekane. Die eine befindet sich auf dem Leib der Nut und nennt Namen dieser Sternbilder, wobei jedem Namen eine bestimmte Zahl von kleinen Scheiben oder Sternen hinzugefügt sind - das sind die Sterne, die das Sternbild jeweils umfaßt. Die zweite Liste befindet sich unter dem Leib der Nut und enthält jeweils drei Daten nach dem ägyptischen Kalender.
Der altägyptische Kalender
Der ägyptische Kalender war ein Sonnenkalender mit 12 Monaten und 360+5 Tagen. Die Woche hatte 10 Tage und das Dekadenfest korrelierte ideell mit dem Aufgang eines neuen Dekans. Jeweils vier Monate waren noch einmal zu einer Jahreszeit zusammengefaßt. Diese hießen Achet „Überschwemmung“, Peret „Herauskommen (der Saat)“ und Schemu „Hitze“. Am Ende des Jahres gab es noch fünf sog. Epagomenen, die ägyptisch „die 5 Tage auf dem Jahr“ hießen. Diese galten als Geburtstage von fünf der wichtigsten Götter. Außerdem waren sie extrem gefürchtet, da man glaubte, daß an diesen Tagen die Dämonen besonders aktiv seien. Um auch diese Tage irgendwie in der Zeitmessung unterzubringen, ordnete man ihnen noch einige zusätzliche Sternbilder zu.
Daß das an sich solide solare Kalendersystem mit den Dekanen auf wackligen Füßen stand, wird aus dieser Kurzbeschreibung schon deutlich. Hinzu kommt, daß den Ägyptern ein Schalttag alle vier Jahre fehlte. Das führte dazu, daß sich das Idealjahr und das reale Jahr im Laufe der Zeit voneinander entfernten. Das Idealjahr beginnt mit dem heliakischen Frühaufgang des Sirius. Dieser Siriusaufgang erfolgt wie erwähnt etwa zur selben Zeit, zu der in Ägypten die Nilflut einsetzte, die die Fruchtbarkeit der Felder garantierte, was die Ägypter einen Kausalzusammenhang zwischen beiden Phänomenen sehen ließ. Da sich aber wie gesagt Idealjahr und wirkliches Jahr gegeneinander verschieben, findet der Siriusaufgang tatsächlich meistens an einem anderen Tag als dem kalendarischen Neujahrsmorgen statt. Nur ca. alle 1460 Jahre stimmen beide Daten überein, dieser sich im Laufe der Zeit selbst ändernde Zeitraum wird Sothisperiode genannt.
Für die Forschung hat dies aber einen Vorteil, denn man kann die entsprechenden Daten berechnen und dadurch die ägyptische Chronologie fixieren. Auch die Ägypter selbst konnten den Siriusfrühaufgang nachweislich bereits im 2. Jtsd. v. Chr. vorausberechnen.
Das sog. Nutbuch
Doch zurück zu unserem astronomischen Handbuch und seiner Datenliste. Die Liste gibt für jeden Dekan drei Daten an: „Erste“, „Umkreisen der Unterwelt“ und „Geburt“. Diese Daten entsprechen in moderner astronomischer Terminologie der akronychen Kulmination, dem akronychen Untergang und schließlich dem heliakischen Aufgang. Letzterer wurde bereits oben erklärt, akronyche Kulmination bedeutet den Höchststand eines Sterns am Himmel im Moment des Einsetzens der Nacht, d.h. beim Sichtbarwerden des Sterns am Abendhimmel. Akronycher Untergang bedeutet dementsprechend sein Verschwinden am Horizont unmittelbar nach seinem Sichtbarwerden. Diese Daten kann man für Sirius wie gesagt noch heute berechnen und die genannte Liste läßt sich so astronomisch auf ca. 1900-1850 v. Chr. datieren, also merklich vor die erste positive Bezeugung des Textes.
Das Dekansystem dieser Liste und das der Namensliste weichen aber voneinander ab, wobei die Namensliste ein entwicklungsgeschichtlich älteres System benutzt. Das heißt konkret, daß hier im Laufe eines Redaktionsprozesses ein älteres System durch ein jüngeres, eigentlich nicht damit kompatibles System ergänzt wurde, und diese Feststellung stimmt sehr gut zu dem Sprachzustand des Textes, der mit wenigen Einsprengseln sehr archaisch ist. Beide Befunde sowie eine Reihe weiterer auffälliger Merkmale, die ich hier nicht im Detail ausbreiten kann, bringen mich zu der bereits erwähnten Datierung der Entstehung des Basistextes ins 3. Jahrtausend, sowie zur Annahme einer redaktionellen Überarbeitung im frühen 2. Jahrtausend.
Papyrusfassungen
Während in den illustrierten Versionen - bei denen es sich mit einer Ausnahme durchweg um monumentalisierte Fassungen an Tempel- bzw. Grabdecken handelt - die vollständige, aber zum Aufzeichnungszeitpunkt völlig veraltete Datenliste wiedergegeben ist, enthalten die unillustrierten Papyrusfassungen nur ein Beispiel, anhand dessen man sich den Rest jeweils aktuell selbst ausrechnen kann. Zwei dieser Papyri enthielten in der Spätzeit angefertigte Übersetzungen des Textes ins Demotische, eine jüngere Sprachform des Ägyptischen, und Kommentare in derselben Sprachstufe, was die enorme Wertschätzung des Werkes durch die Ägypter selbst belegt. Dieser Kommentar erläutert ausführlich die Datenliste und das ihr zugrundeliegende astronomische System. Ohne diese Erläuterungen hätte die moderne Forschung es wohl nur schwerlich geschafft, dieses System zu entschlüsseln. Als Beispiel sei hier das an das als Geburt bezeichnete Datum des heliakischen Aufgangs angehängte Resümee zitiert:
„(Lemma:) Geburt: am 2. Monat Schemu 16.
(Kommentar:) Das heißt, daß er am Himmel aufgeht aus der Unterwelt am 2. Monat Schemu, Tag 16. Zähle vom 4. Monat Peret Tag 6, welches der Tag ist, an dem er unterging, bis zum 2. Monat Schemu, Tag 16, welches der Tag seines Aufgangs ist. Das macht 70 Tage. Das sind diejenigen, die er in der Unterwelt verbringt. Er geht auf am 2. Monat Schemu, Tag 16. Er verbringt 80 Tage im Osten, bevor er Arbeit leistet (d.h. kulminiert). Er verbringt 120 Tage, indem er in der Mitte des Himmels Arbeit leistet. Er verbringt die 10 Tage, die oben genannt sind, in ihnen. Er verbringt drei Monate im Westen. Die 12 Monate sind eine Art, die 36 Sterne zu nennen.“
Am Ende des ersten Kapitels steht ein kurzer Abschnitt über die Beschaffenheit und den Aufenthaltsort der Zugvögel. Diese kommen von Norden aus Qebehu, wo ihre Nistplätze liegen sollen. Das Land Qebehu ist zwar eine halbmythische Örtlichkeit, allerdings mit einem durchaus korrekten Hintergrund. Übersetzt heißt der Name nämlich nichts anderes als „das Kühle“. Es heißt ferner, daß die Vögel kommen, um sich in den Sümpfen Ägyptens aufzuhalten und dort Gemüse zu fressen. Der Zugvogelteil steht in keinerlei Relation zu den astronomischen Inhalten und wurde im Redaktionsprozeß offensichtlich nur deshalb an dieser Stelle eingefügt, weil sich ihr Herkunftsort in einer kosmischen Grenzregion befindet, von der vorher im Text im Zusammenhang mit der Position der Himmelsgöttin gerade die Rede war.
Zyklus der Dekane
Der nächste Abschnitt widmet sich weiterhin intensiv dem Zyklus der Dekane, freilich unter starker Bemühung mythologischer Deutungen. Das periodische Unsichtbarwerden der Sternbilder wird dadurch erklärt, daß sie von der Himmelsgöttin verschluckt und später wieder neu geboren würden. Die Göttin wird in diesem Zusammenhang „die Sau, die ihre Ferkel frißt“ genannt, eine Bezeichnung, die, das sei nur am Rande bemerkt, ein bei Schweinen tatsächlich unter bestimmten Bedingungen beobachtbares Verhalten auf die astronomischen Phänomene überträgt. Daraufhin soll es zu einem Streit zwischen der Himmelsgöttin Nut und ihrem Ehemann, dem Erdgott Geb gekommen sein. Der gemeinsame Vater Schu muß schlichtend eingreifen und trennt die Streitenden, indem er Nut auf seinen Kopf hebt. Diese Situation stellen die illustrierten Fassungen dar. Beiläufig wird hier also eine Art von Theorie über den Ursprung der Welt ausgebreitet, denn ohne die Trennung von Himmel und Erde könnte natürlich kein Leben auf der Erde möglich sein.
Im weiteren Verlauf spielen diese Vorstellungen dann jedoch eine geringere Rolle, vielmehr wird dargelegt, wie sich der Lebenszyklus eines Dekans genau abspielt. Die Unsichtbarkeitsphase entspricht einer Reinigung, der Wiederaufgang erfolgt aus dem Wasser des Urozeans. Dabei macht der Dekan eine Metamorphose wie ein Insekt durch. Er besitzt eine Wasserform und eine Himmelsform. Außerdem wird wiederholt darauf hingewiesen, daß die Dekane und die Sonne dieselbe Himmelsbahn besitzen, eine auch nach heutigen Maßstäben korrekte Beobachtung.
Der Mond
Das nächste Kapitel wechselt das Thema vollständig, im Folgenden geht es um den Lauf des Mondes. Der Zyklus beginnt nicht etwa mit dem Neumond oder der ersten Sichtbarkeit des zunehmenden Mondes, sondern mit dem Altlicht, also der letztmaligen Sichtbarkeit des abnehmenden Mondes. Die einzelnen Tage des Mondmonats werden dann entsprechend ihrer ägyptischen Namen mythologisch ausgedeutet, und zwar im Hinblick auf den Horus-und-Seth-Mythos. Der böse Seth versucht dem guten Horus, der selbst bzw. dessen Auge mit dem Mond gleichgesetzt wird, zu schaden. Der Zyklus geht bis zum Vollmond und scheint dann im nächsten Kapitel nach einer anderen Quelle erneut zu starten, der abnehmende Mond wird dagegen ausgespart. Das Mondkapitel ist außerordentlich stark mythologisiert und dementsprechend schwer verständlich für den heutigen Leser. Auch fehlt uns hier der antike Kommentar, der sich auf die Abschnitte über die Dekane beschränkte und danach selbst mit der Bemerkung abbricht, den Rest habe er nicht verstanden. Nichtsdestotrotz verbergen sich hinter allen grundsätzlichen Aussagen solide Beobachtungen. Als Kostprobe hier ein kurzer Auszug aus der Beschreibung des fünfzehnten Mondmonatstages, an dem sich der Vollmond und die Sonne genau gegenüberstehen:
„Das ist das Hervorgehen des Horus gegenüber Re. Das ist die Sonne im Westen, und das ist der Mond im Osten. Das ist die Vereinigung der beiden Stiere am Tag der Reinigung, beim Morgengrauen des Festes des fünfzehnten Tages. Das ist Horus, der ausgestattet hervorkommt, nachdem ihm seine beiden Augen gänzlich gegeben wurden als rechtes Auge und als linkes Auge.“
Dieses Zitat ist eine der klarsten und am besten verständlichen Stellen dieses Kapitels. Dennoch können hier an einem vergleichsweise unproblematischen Fall auch die bei der „Religiösen Astronomie“ immer wieder auftretenden Probleme aufgezeigt werden. Während die ersten Sätze den Mond mit Horus, die Sonne mit Re gleichsetzen und beide als zwei verschiedene Wesen auffassen, die unter anderem als Stiere gedacht werden können, ist im letzten Satz nur noch von Horus die Rede, dem nun beide Himmelskörper als linkes und rechtes Auge zugeordnet werden. Das wirkt nach heutigen westlichen Maßstäben unlogisch, ist aber nur die in der ägyptischen Religion stets geübte „multiplicity of approaches“, wie ein bedeutender Forscher dies genannt hat. Daß man als Naturwissenschaftler modernen Schlages hier ins Schleudern gerät, wenn man die denkbaren Möglichkeiten nicht kennt, liegt auf der Hand. Zur Warnung sei jedoch hinzugefügt, daß man nicht nur ins Schleudern gerät, sondern buchstäblich aus der Bahn und auf die Nase fällt, wenn man „multiplicity of approaches“ mit „anything goes“ verwechselt.
Das letzte erhaltene Kapitel handelt noch einmal den zunehmenden Mond kurz ab, bevor die Planeten erwähnt werden. Leider ist dieser Teil des Textes in den verfügbaren Zeugen extrem fragmentarisch erhalten, so daß kaum weiterreichende Aussagen über seinen Inhalt möglich sind. Das eigentliche Ende des Textes ist in keiner der Handschriften erhalten.
Religiöse Astronomie
Wenn ich den „Grundriß des Laufes der Sterne“ hier recht ausführlich vorgestellt habe, so aus mehreren Gründen. Einerseits handelt es sich tatsächlich um den bedeutendsten zusammenhängend überlieferten Text zur ägyptischen Astronomie, andererseits lassen sich hier einige der Probleme, mit denen die moderne Forschung in solchen Texten konfrontiert wird, exemplarisch aufzeigen. Hinzu kommt, daß dieser Text den Ägyptern selbst so wichtig war, daß er nicht nur über Jahrtausende immer wieder abgeschrieben wurde, sondern daß auch eine tiefergehende Auseinandersetzung damit stattfand. Wie schon kurz angesprochen, wurden in der Spätzeit, als die archaische Sprachform des Textes nur noch wenigen Gelehrten verständlich war, mindestens zwei verschiedene Übersetzungen in die zeitgenössische Form der ägyptischen Sprache vorgenommen. Man kann sich das etwa so vorstellen wie eine Übersetzung vom Alt- ins Neuhochdeutsche. Beide Übersetzungen erhielten zusätzlichen je einen Kommentar, der einerseits schwierige Sachverhalte erklärt, andererseits aber - bewußt oder unbewußt - auch den Basistext im Sinne zeitgenössischer Vorstellungen umdeutet. Außerdem läßt sich nachweisen, daß man bewußt mehrere voneinander abweichende Versionen des Werkes sammelte und miteinander verglich.
Die Alten Ägypter verfügten also insgesamt über ein durch langfristige genaue Beobachtung gewonnenes Wissen über den Himmel und seine sichtbaren Phänomene. Die Informationen wurden in den Tempelbibliotheken in durchaus wissenschaftlicher Weise zusammengetragen, systematisiert und verglichen. Dennoch blieb der Fokus des Interesses stets ein religiöser. Dies erschwert für den modernen Forscher den Zugang, erhöht aber je nach Standpunkt auch wieder den Reiz des Forschungsgegenstandes.
Literatur
- A. von Lieven, Der Himmel über Esna. Eine Fallstudie zur Religiösen Astronomie in Ägypten am Beispiel der kosmologischen Decken- und Architravinschriften im Tempel von Esna, Wiesbaden 2000
- A. von Lieven, Wein, Weib und Gesang — Rituale für die Gefährliche Göttin, Rituale in der Vorgeschichte, Antike und Gegenwart (Hg. C. Metzner-Nebelsick u.a.), Rahden (Westf.) 2003, S. 47-55
- A. von Lieven, Grundriß des Laufes der Sterne. Das sogenannte Nutbuch, Kopenhagen 2007
- C. Leitz, Studien zur ägyptischen Astronomie, Wiesbaden 1991[2]
- O. Neugebauer/R.A. Parker, Egyptian Astronomical Texts I-III, London 1960-1969
Abbildungsnachweise
- Budge 1904: E. A. Wallis Budge, The Gods Of The Egytians. Studies In Egyptian Mythology (London 1904)
- Frankfort 1933: H. Frankfort, The Cenotaph of Seti I at Abydos (London 1933)
- Roeder 1930: G. Roeder, Der Tempel von Dakke II (Kairo 1930)
Weiterführende Links
In unserem Guide im Bereich Themen / Archäo-Astronomie finden Sie eine Zusammenstellung von Links zum Thema.