»Die antike Stadt Doliche, die in römischer Zeit Teil der Provinz Syria war, liegt heute am Rande der türkischen Metropole Gaziantep«, erläutert Prof. Dr. Engelbert Winter vom Exzellenzcluster »Religion und Politik« der Universität Münster. »Die Stadt ist eine der wenigen Orte, an denen aktuell die syrische Stadtkultur aus hellenistisch-römischer Zeit noch untersucht werden kann.« Solche urbanen Zentren seien bisher kaum erforscht. Berühmte Stätten im heutigen Syrien wie Apameia oder Kyrrhos, die dafür in Frage kämen, seien wegen des Kriegs unzugänglich oder zerstört.
Prof. Winter äußerte sich zum Ende der ersten Grabungssaison des neuen Grabungsprojektes zur Stadtentwicklung im antiken Syrien, das die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) seit diesem Jahr mit insgesamt 600.000 Euro fördert. Die Forscher setzten zugleich ihre Grabungen im Heiligtum des Iuppiter Dolichenus fort, die mit dem Exzellenzcluster verbunden sind.
»Besonders schlimm steht es heute um den Ort Apameia, eine der bedeutendsten antiken Städte Syriens«, so Prof. Winter. »Raubgrabungen haben das ganz Stadtgebiet zerstört. Satellitenbilder zeigen dies. Ob dort je wieder Forschung möglich ist, bleibt fraglich. Auch die jüngst wieder aufgenommenen Grabungen in Kyrrhos mussten wegen der aktuellen Lage eingestellt werden.« Die antike Stadt Antiocheia am Orontes wiederum, einstige Hauptstadt der römischen Provinz Syria und heutige türkische Metropole Antakya, sei stark überbaut. »So können bis auf weiteres unsere Grabungen in der auf türkischem Staatsgebiet liegenden Stadt Doliche, die zudem durch umfangreiche Vorarbeiten gut erschlossen und für archäologische Forschungen frei zugänglich ist, neue Informationen zur städtischen Kultur im antiken nordsyrischen Binnenland erbringen«, sagt Grabungsleiter Prof. Winter von der WWU-Forschungsstelle Asia Minor.
Herausragendes Mosaik von filigranem Muster
»Die herausragende Entdeckung unserer Grabungen ist ein Mosaikboden von hoher Qualität in einem prächtigen spätantiken Gebäudekomplex mit säulenumstandenem Hof, der ursprünglich weit über 100 Quadratmeter groß war«, erläutert der Archäologe Dr. Michael Blömer. »Wegen der Größe und streng durchkomponierten Abfolge filigraner geometrischer Muster zählt das Mosaik zu einem der schönsten Beispiele spätantiker Mosaikkunst in der Region.« Auch wenn die Funktion des Baus noch unklar sei, müsse es sich um eine reiche Stadtvilla handeln. »Diese ersten Funde zeigen bereits, welches Potential die Anlage für die weitere Erforschung der Lebensumwelt städtischer Eliten und für Fragen von Ausstattungsluxus im urbanen Raum besitzt.«
Daneben legte das Forscherteam einfache Häuser, Gassen und Wasserleitungen frei, die wichtige Einblicke in den Alltag der Bevölkerung und die Organisation der Stadt versprechen, wie Dr. Blömer ausführt. 2016 sollen die Ausgrabungen auf die öffentlichen Bereiche der antiken Stadt ausgedehnt werden. Das Projekt verspreche neue Aussagen zu zentralen Fragen: »Durch verschiedene Methoden hoffen wir, ein verlässliches Bild einer nordsyrischen Stadt von der hellenistischen Epoche bis in die Kreuzfahrerzeit sowie ein klareres Bild von materieller Alltagskultur und lokaler Identität in dieser Region zu gewinnen, deren Erforschung im antiken Syrien noch am Anfang steht.«
Grabungen an einem nahen Felsüberhang führten in eine wesentlich ältere Epoche: Dort liegt ein paläolithischer Siedlungsplatz aus der Zeit zwischen 600.000 und 300.000 vor Christus. »Menschen ließen sich hier nieder, weil es Feuerstein gab, aus dem Werkzeuge hergestellt wurden«, so Prof. Winter. »Ein Teil unserer neuen Funde lässt sich bereits in die Zeit um 300.000 vor Christus datieren. Daher wollen wir die Forschungen zu diesem für die frühe Menschheitsgeschichte zentralen Fundort zum eigenen Projekt ausbauen.«
Statuette eines bronzenen Hirsches
Zeitgleich zum Neustart der DFG-geförderten Grabung im Stadtgebiet von Doliche setzte eine zweite Gruppe die Ausgrabungen auf dem benachbarten Berg Dülük Baba Tepesi fort, die dort seit 15 Jahren im Heiligtum des Iuppiter Dolichenus, eines der wichtigsten Götter der römischen Kaiserzeit, andauern. Neben gut erhaltenen Abschnitten der Ummauerung des römischen Heiligtums wurden weitere Teile eines christlichen Klosters freigelegt, das dort nach Ende des heidnischen Kultes auf dem Berggipfel gegründet wurde. In den vergangenen Jahren hatten die Forscher viele wertvolle Funde bergen können, die zeigen, dass der Ort bereits im 9. und 8. Jahrhundert vor Christus als Heiligtum genutzt wurde und damit wesentlich älter ist als zunächst angenommen. Dies bestätigte sich in diesem Jahr durch den Fund einer qualitätsvollen Statuette eines bronzenen Hirsches, die ebenfalls in das frühe 1. Jahrtausend vor Christus datiert.
Das Projekt B2-20 am Exzellenzcluster »Mediale Repräsentation und ‚religiöser Markt‘: Sichtbarkeit, Selbstdarstellung und Rezeption syrischer Kulte im Westen des Imperium Romanum« ist mit dem Grabungsprojekt eng vernetzt. Schwerpunkt ist die Entwicklung von Lokalkulten zu Reichsreligionen.