Die Jahrtausende währende Besiedlung Europas durch den Mensch hat archäologische Spuren im Boden hinterlassen - Spuren die mit modernster zerstörungsfreier Messtechnik am Computerbildschirm wieder sichtbar gemacht werden können. Das Ludwig Boltzmann Institut für Archäologische Prospektion und Virtuelle Archäologie (LBI ArchPro) kartierte in den letzten drei Jahren mit seinen europäischen Partnern mit modernster Technologie flächendeckend den Untergrund bedeutender wikingerzeitlicher Fundstellen in Südnorwegen. Die vom LBI ArchPro untersuchten, als UNESCO Weltkulturerbe nominierten Landschaften rund um die berühmten Schiffsgräber von Gokstad und Oseberg und den bedeutenden südnorwegischen Bestattungsplatz Borre mit den größten wikingerzeitlichen Grabhügeln Skandinaviens offenbarten bis dahin unbekannte Siedlungsmuster. Im Winter 2012/13 entdeckte das Forscherteam mit neuen, speziell für den Wintereinsatz auf verschneiten Flächen entwickelten Bodenradarsystemen in Borre einen in seiner Struktur einzigartigen Häuptlingssitz.
Das LBI ArchPro und seine norwegischen Partnerorganisationen NIKU und Vestfold Fylkeskommune sind an den wikingerzeitlichen Fundplätzen von Kaupang, Gokstad und Oseberg sowie auch im Bereich des bedeutenden Nationalparks Borre am Oslofjord tätig und konnten in kurzer Zeit unter Einsatz moderner zerstörungsfreier archäologischer Untersuchungsmethoden den Boden durchleuchten und faszinierende neue Erkenntnisse zur Wikingerzeit gewinnen. Der Fundort Borre in der Gemeinde Horten, Vestfold, umfasst die größte Ansammlung monumentaler Grabhügel aus der Zeit von ca. 600 – 900 n.Chr. Der Fundort ist heute Teil eines ca. 18 Hektar umfassenden archäologischen Nationalparks, dessen weitere Umgebung Ziel der Untersuchungen. Neun erhaltene monumentale Grabhügel neben ehemals drei weiteren großen Grabhügeln waren primär vom Meer, dem Oslofjord, aus sichtbar. Ursprünglich wurden die imposanten Bestattungen in Borre mit den aus den nordischen Sagas bekannten Clan der Ynglinger verbunden. Neuere DNA-Analysen zeigen jedoch, dass der ausgedehnte Bestattungsplatz von herausragende Personen verschiedener Familien verwendet wurde. Borre war demnach ein bedeutender Platz für regionale Häuptlinge zur Manifestation ihrer Macht und ihres Einflusses auch in der Zeit nach ihrem Tode. In dieses Bild passen die durch erste Bodenradarmessungen entdeckten, sogenannten Königshallen, von denen eine derzeit im Maßstab 1:1 im archäologischen Park rekonstruiert wird. Von den ursprünglich mindestens zwölf Monumentalgräbern wurde eines im Jahr 1852 für die Entnahme von Schüttmaterial für den Straßenbau teilweise zerstört. Die nachfolgenden Grabungen ergaben eine Schiffsbestattung mit einem 17-21 m langen Wikingerschiff. Aufgrund der Funde ist dieses Monument in direktem Zusammenhang mit den weltbekannten Wikingerschiffen von Gokstad, Oseberg und Tune zu sehen, die sich heute zusammen mit den zahlreichen Fundobjekten aus Borre im Wikingerschiffmuseum in Oslo befinden. Der durch die Grabungen im neunzehnten Jahrhundert fast vollständig zerstörte Grabhügel konnte aufgrund der in den Untergrund reichenden Grabgruben und die ehemals umlaufenden Gräben nun ebenfalls über die Bodenradarmessungen wieder genau lokalisiert werden.
Aufgrund der Belege für einen offensichtlich nicht nur lokal bedeutenden Bestattungsplatz, die Schiffsbestattungen und der Fund der monumentalen Hallen, welche vermutlich der Aufbahrung und Verehrung der Toten im Rahmen von Ritualen und Festen dienten, ist Borre als zentraler Versammlungs- und Bestattungsplatz zu interpretieren, der wiederkehrend aufgesucht wurde. Dadurch und aufgrund der erwiesenen besonderen Sichtverhältnisse auf die monumentalen Grabhügel ausschließlich vom Meer aus, stellte sich im Rahmen des österreichisch-norwegischen Großprojektes auch die Frage nach entsprechenden Hafenanlagen. Eine detaillierte Auswertung mit den vom LBI ArchPro neu entwickelten Verfahren, der aus der Luft aufgenommenen Laserscannerdaten sowie weiteren geophysikalischen und geoarchäologischen Untersuchungen erbrachten nun den Nachweis einer strukturierten Hafenanlage mit Wellenbrechern und Hafenbecken, die das Anlanden großer Schiffe und Boote an diesem Zentralort im Oslofjord möglich machten. Im Umfeld des Fundortes konnten zwar bereits einige wikingerzeitliche Feldfluren untersucht werden, eine zugehörige größere Siedlung konnte bis zum jetzigen Zeitpunkt jedoch nicht gefunden werden.
Besondere Bedeutung in diesem Gesamtzusammenhang kommt nun der letzten Entdeckung des LBI ArchPro zu. Mit Hilfe von speziell für diese Untersuchungen entwickelten schneetauglichen Bodenradarsystemen wurde im März 2013 die nähere Umgebung des Bestattungsplatzes bis in 2 m Tiefe durchleuchtet. Auf der Suche nach Siedlungsstrukturen wurden die hochauflösenden dreidimensionalen Messbilder, die westlich des archäologischen Parks auf einer Fläche über 20 Hektar aufgenommen wurden, von den Spezialisten des LBI ArchPro und ihren norwegischen Kollegen analysiert. Neben zahlreichen Flakstellungen und Laufgräben aus dem Zweiten Weltkrieg, die in den Radardaten sichtbar wurden, konnten nördlich davon die auf einer ehemaligen Strandterrasse gelegenen Überreste eines typischen wikingerzeitlichen Langhauses mit mehreren Nebengebäuden im Untergrund entdeckt werden. Für die Errichtung des Gebäudes wurde eine Terrasse mit einer Gesamtfläche von 1.500 m2 aufgeschüttet. Auf diesem ebenen Baugrund wurde ein parallel zum Strandverlauf ausgerichtetes Langhaus mit 47 m Länge und ca. 650 m2 Innenraum errichtet. Das Gebäude weist einen dreischiffigen Aufbau mit einer Breite zwischen 12 und 14 m auf. Zum Meer hin besaß das Gebäude einen Vorbau mit zentralem Eingang. Das Langhaus besitzt weitere Eingänge an der nordöstlichen Schmalseite sowie auf der dem Meer abgewandten Längsseite. Die zentralen dachtragenden Holzpfosten lassen sich in den Radardaten durch die Gruben, in welche sie eingesetzt wurden, detektieren. Diese Pfostengruben weisen Durchmesser von 1 – 1,5 m auf und belegen deutlich die monumentale Ausformung dieses Gebäudes. Die typische Ausbildung der dem Meer abgewandten Längswand mit schräg stehenden, die Dachlast tragenden Pfosten ist ein Hinweis auf die zeitliche Einordnung des neu entdeckten Hauses. Die Forschungen diesbezüglich sind zwar noch nicht abgeschlossen, deuten aber darauf hin, dass es sich um ein Gebäude handelt das an das Ende der Belegungszeit des Gräberfeldes zu datieren ist. Die Forscher interpretieren die durch die zerstörungsfrei mit Radarmessungen detailliert kartierten Strukturen als die vergleichsweise gut erhaltenen Überreste eines wikingerzeitlichen Häuptlingssitzes, der das Bild des ursprünglich als reinen Versammlungs- und Bestattungsplatz gedeuteten Fundortes in Borre in neuem Licht erscheinen lässt.
Info
Das Ludwig Boltzmann Institut für Archäologische Prospektion und Virtuelle Archäologie ist ein Forschungsinstitut der Ludwig Boltzmann Gesellschaft und wurde 2010 gegründet. Das Institut führt seine Forschungsaktivitäten gemeinsam mit internationalen Partnerorganisationen durch und zielt auf die Errichtung eines Netzwerks von Forschern die gemeinsam interdisziplinäre archäologische Forschungsprogramme zur Entwicklung großflächiger, effizienter und zerstörungsfreier Methoden zur Entdeckung, Dokumentation, Visualisierung und Interpretation des europäischen archäologischen Erbes durchführen. Die Hauptpartner des in Wien angesiedelten Instituts sind die Universität Wien (A), die Technische Universität Wien (A), die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (A), das Amt der Niederösterreichischen Landesregierung (A), Airborne Technologies (A), das Römisch-Germanische Zentralmuseum Mainz (D), das Schwedische Zentrale Denkmalamt Riksantikvarieämbetet (S), das IBM VISTA Laboratorium der Universität Birmingham (UK) und NIKU – das Norwegische Institut zur Erforschung des Kulturerbes (N). Für das Projekt in Borre wurde mit der Organisation Kulturarv der Vestfold Fylkeskommune zusammengearbeitet.