Capacity Building in Krisenregionen
Syrische Flüchtlinge: Perspektiven für den Wiederaufbau
Wer dieser Tage aufmerksam durch größere Städte in Deutschland geht, wird über kurz oder lang mit der Aufforderung konfrontiert, nach Jordanien zu reisen. Auf Großplakaten und Bannern in Bahnhöfen, an Litfaßsäulen und Taxis, die wunderschöne Landschaften und bedeutende kulturelle Zeugnisse und Antiken zeigen, rückt ein Land ins Bewusstsein, das Gastfreundschaft jedoch nicht nur gegenüber zahlenden Gästen bietet. Das Hashemitische Königreich Jordanien, wüstenreiches Land in Vorderasien, zählt 6,7 Millionen Einwohner. Derzeit beherbergt es 750.000 Flüchtlinge vor allem aus Syrien. Bundespräsident Joachim Gauck und Daniela Schadt reisen vom 7. bis 8. Dezember 2015 nach Jordanien, um die Leistung zu würdigen, die die jordanische Gesellschaft bei der Unterbringung von Hunderttausenden Flüchtlingen erbringt.
Auf der Grundlage lange bestehender wissenschaftlicher Zusammenarbeit und Ausbildungsinitiativen kooperiert das Deutsche Archäologische Institut (DAI) mit jordanischen Einrichtungen bei der Qualifizierung syrischer Flüchtlinge, um sie in die Lage zu versetzen, die Zukunft ihres Landes zu gestalten. Kompetenzen zu vermitteln, Flüchtlinge in bestehende Projekte einzubeziehen, Leitfäden für den Umgang mit zerstörten Städten und Denkmälern zu entwickeln, Kooperation zu stiften oder zu vertiefen und ein auch über den Bereich der Forschung hinausgehendes Capacity building zu etablieren, sind Ziele des vom DAI koordinierten Projekts, das kürzlich mit Unterstützung des Auswärtigen Amts angelaufen ist: »Die Stunde Null – Eine Zukunft für die Zeit nach der Krise«.
Die Reise des Bundespräsidenten ist ein Bekenntnis für humanitäre Hilfe, die schnellstmöglich die schlimmste Not lindert. Sie wirft aber auch Licht auf die Frage nach der Zukunft derjenigen Länder des Nahen Ostens, die derzeit von Gewalt und Vernichtung heimgesucht werden, deren Menschen verfolgt und ermordet und deren Kulturgüter und Kunstschätze zerstört werden. Islamische Heiligtümer und Wallfahrtsstätten gehören ebenso dazu wie christliche Kirchen und Klöster oder die Zeugnisse der altorientalischen Hochkulturen, denen auch wir Wesentliches zu verdanken haben. In der Archäologie gibt es eine lange Tradition gemeinsamer Erforschung der Vergangenheit im Vorderen Orient, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Die Aus- und Weiterbildung von Nachwuchswissenschaftlern, aber auch die Ausbildung von Handwerkern ist seit jeher Bestandteil dieser Arbeit – und auch ein wesentlicher Baustein der Zusammenarbeit jordanischer und deutscher Einrichtungen in Jordanien. Nur ein ausgezeichnet qualifizierter wissenschaftlicher und handwerklicher Nachwuchs ist in der Lage, die notwendigen Arbeiten zum Wiederaufbau in Krisenregionen durchzuführen, zu koordinieren und so die Zukunft zu sichern.
Pilotprojekte
Zum Auftakt der Initiative zur „Stunde Null», die nicht als „Megaprojekt«, sondern als ein Netzwerk vieler Projekte angelegt ist, werden syrische Flüchtlinge in Jordanien und im Libanon gemeinsam mit lokalen Akteuren in den Bereichen Restaurierung und Konservierung ausgebildet. So können sie beispielsweise an der archäologischen Stätte der 2000 Jahre alten hellenistisch-römischen Stadtanlage von Gadara in der Nähe von Umm Qays östlich des Jordan praktische Fertigkeiten erwerben, die berufliche Perspektiven schaffen und auf den Wiederaufbau ausgerichtet sind. Ab 2016 werden Jugendliche und junge Erwachsene in Workshops an den Projekten in Gadara mitarbeiten. In einem Trainingscamp für jordanische und syrische Handwerker werden zudem traditionelle Steinmetztechniken vermittelt. Damit können die Teilnehmer an der geplanten Sicherung und Konservierung des kulturgeschichtlich wichtigen Westtheaters in Gadara mitarbeiten.
Ein weiteres Pilotprojekt des DAI richtete sich an den sehr jungen »wissenschaftlichen» Nachwuchs. In enger Kooperation mit den örtlichen Behörden und kommunalen Akteuren führten die DAI-Bauforscherin Dr.-Ing. Claudia Bührig und der Experimentalarchäologe Dr. Frank Andraschko (Universität Hamburg) im Frühjahr 2015 Workshops für Schulkinder aus Umm Qays durch.
In dem Hands-on-Workshop lernten die Kinder in der faszinierenden Natur des „Yarmouk Nature Reserve«, Feuer ohne Streichhölzer anzufachen, mit dem Bogen zu schießen wie vor tausenden von Jahren oder Schmuck aus Ton herzustellen und im offenen Feuer zu brennen. Höhepunkt der Veranstaltung war die Eröffnung einer kindgerechten Begleitausstellung am 23. April 2015 und die Präsentation des „Children´s Guide to Gadara«, einer 44-seitigen Broschüre, die auf arabisch, deutsch und englisch die Bedeutung der alten Kulturen für heutige Gesellschaften, aber auch wichtige touristische Informationen enthält. Die Workshops flankieren ein groß angelegtes Projekt zur Umweltfortbildung in Jordanien, das in Zusammenarbeit mit der jordanischen Royal Society for the Conservation of Nature durchgeführt wird und in einem neuartigen Konzept den Naturschutz mit dem Schutz des kulturellen Erbes verbindet.
Aufgrund der positiven Erfahrungen mit den bereits durchgeführten Programmen werden deutsche und jordanische Partner, unterstützt von UNICEF und UNESCO, in den nächsten Jahren ein Bildungsprogramm zur Kulturregion Jordanien und Syrien entwickeln, um jungen Menschen das kulturellen Erbe der Region zu vermitteln. Es wird sowohl in jordanischen Gemeinden wie auch in Lagern für syrische Flüchtlinge angeboten.
Das Bewusstsein für die gemeinsame kulturelle Tradition zu stärken, ist auch das Ziel eines internationalen Vorhabens im Netzwerk, das von der Gerda Henkel Stiftung gefördert wird. In einem der nordjordanischen Flüchtlingslager errichten jordanische Behörden, syrische Helfer und Archäologen ein Kulturzentrum für syrische Flüchtlinge und für Bewohner des jordanischen Umlandes. Hier sollen das notwendige Wissen in den Bereichen Landschafts- und Denkmalkunde sowie handwerkliche Fähigkeiten vermittelt werden. Ferner erforschen in der auch im Norden Jordaniens gelegenen Stadt Jerash Wissenschaftler der University of Jordan, Amman, in Kooperation mit syrischen Flüchtlingen und Handwerkern aus dem nahegelegenen Gaza die römische Thermenanlage der Stadt.
Ebenfalls in Jordanien angesiedelt ist ein wichtiger Bestandteil der akademischen Ausbildung zukünftiger Bauforscher und Denkmalschützer. An der Deutsch-Jordanischen Universität in Amman (GJU) wird der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) als Teil des Netzwerks den Studiengang „Architectural Conservation» fördern. Um dies zu realisieren, arbeiten viele Akteure daran, dass Gelder für die Vergabe von Stipendien eingeworben werden. Weitere vom DAAD geförderte Studiengänge zu Bauforschung, Konservierung, Site Management oder Museologie, die gemeinsam von Universitäten in Deutschland und Ägypten durchgeführt werden, sollen für Zukunft diejenigen Experten ausbilden, die benötigt werden, in einer „Stunde Null« nicht nur konkret und fachgerecht zu handeln, sondern auch die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Eine der Grundlagen, um das zu ermöglichen, ist das digitale Denkmalregister, das derzeit unter dem Namen »Syrian Heritage Archive Project« vom DAI in Kooperation mit dem Berliner Museum für Islamische Kunst (SPK) durchgeführt und vom Auswärtigen Amt gefördert wird. Die systematische Archivierung und Katalogisierung von Informationen über syrische Denkmäler ist notwendig, um einerseits das kulturelle Erbe erhalten und in Zukunft möglicherweise rekonstruieren zu können, anderseits um dem illegalen Handel mit Kulturgütern entgegenzuwirken. Daher haben das DAI und das Museum für Islamische Kunst Ende 2013 damit begonnen, ihre umfangreichen Archive digital zu erschließen. Das Register ist mit einer offenen Datenplattform so konzipiert, dass es mit Datenbanken in Syrien verbunden wird.
Es waren syrische Studenten an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg, ebenfalls Partner im Netzwerk »Stunde Null», die sich entschieden haben, ihre Abschlussarbeiten über den Wiederaufbau Syriens zu schreiben und dabei auch deutsche Erfahrungen beim Wiederaufbau eines zerstörten Landes mit einzubeziehen. Eine Auffassung, die auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier in seiner Erklärung zur „Stunde Null« bekräftigt: „Unter Mitwirkung verschiedener Projektpartner und syrischer Flüchtlinge wollen wir gemeinsam Konzepte für die Zukunft Syriens entwickeln. Dabei kann Deutschland die Geschichte seiner eigenen Erfahrungen nach 1945 einbringen.«
Antike in Jordanien
Große Teile der Aus- und Weiterbildung für Archäologen, Bauforscher, Denkmalschützer und Handwerker wie z.B. Steinmetze finden an den antiken Stätten Jordaniens statt. Die Region des heutigen modernen Staates Jordanien ist seit dem Neolithikum durchgehend besiedelt; die ersten menschlichen Ansiedlungen reichen bis in die Zeit vor 10 000 Jahren zurück. Die Region sah viele Kulturen kommen und gehen, seine Geschichte verlief wechselhaft: Ammoniter, Moabiter und Edomiter siedelten sich an und gingen wieder unter. Babylonier und Assyrer verleibten sich die Region ein ebenso wie die Achämeniden. Nach dem Ende des Alexanderreichs und der Herrschaft der Seleukiden ließen sich die Nabatäer an strategisch wichtiger Stelle nieder, errichteten das weltberühmte Petra und wurden ihrerseits alsbald Teil des Römischen Reiches. In der Schlacht am Yarmouk 636 n. Chr. besiegten die Araber das oströmische Reich des Kaisers Herakleios. Seitdem gelangte die Region unter die Ägide des Islam.
Ein wichtiger Ausbildungsplatz ist die hellenistisch-römische Stadt Gadara, die seit 50 Jahren von deutschen Archäologen erforscht wird. Hier sollen syrische Archäologen, Bauforscher, Denkmalschützer, aber auch Handwerker in die Lage versetzt werden, dereinst an einem möglichen Wiederaufbau der zerstörten oder beschädigten antiken Stätten in Palmyra, Aleppo oder Homs arbeiten zu können, an Denkmälern mithin, die wesentlicher Bestandteil der Kultur ihres Landes und nicht zuletzt als touristische Ziele ein wichtiger Wirtschaftsfaktor sind.