Dem Ur-Alphabet auf der Spur

Ein neuer Schriftfund in Timna

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Im Juli 2009 führte StoneWatch e.V. eine Expedition zur Vermessung von Felsbildern im Tal von Timna in der israelischen Negev-Wüste durch. Dabei entdeckte StoneWatch-Mitarbeiter Andreas Wahler eine Felsinschrift, die von Experten als Zeugnis der frühesten Alphabetschrift gedeutet wird. Damit wäre der Fund von herausragender Bedeutung für die Erforschung der Schriftgeschichte.

Der Fundort Timna, rund 30 km nördlich von Elat gelegen, ist durch den antiken Kupferbergbau bekannt geworden, der dort in der Spätbronzezeit und Frühen Eisenzeit (ca. 13.-12. Jahrhundert v. Chr.) unter der Ägide der ägyptischen Pharaonen betrieben wurde. Ägyptische Expeditionen wurden damals in die entlegene Region entsandt, um Erz abzubauen und vor Ort zu verhütten. Unter dem Einsatz einheimischer, semitischer Arbeitskräfte wurden Stollen in den Sandstein gegraben und Schmelzöfen angelegt. Unweit eines kleinen pharaonischen Heiligtums für die ägyptische Göttin Hathor, das von den kultischen Bedürfnissen der Ägypter weitab vom Niltal zeugt, ließ ein Expeditionsleiter ein Relief mit hieroglyphischer Inschrift zu Ehren der Göttin und von Pharao Ramses III. anbringen. Ansonsten hinterließen die Arbeiter im weiten Umfeld des Minengebiets, das von steilen Felswänden umschlossen wird, teilweise umfangreiche Felsbilder mit einfachen Darstellungen z.B. von Gazellen und Menschen mit Wagen, jedoch keine Inschriften. Die neu entdeckte Inschrift ist deshalb überraschend, und sie stammt, wie es scheint, nicht von einem Ägypter, sondern von einem der bei den Arbeiten eingesetzten Semiten. Die dabei verwendete Schrift ist wahrscheinlich ein sehr frühe Form der Alphabetschrift, die wir - stark verändert - noch heute verwenden.

Die Ritzung misst nur ca. 12 x 16 cm und hat die Form zweier Ovale, die scheinbar an ägyptische Kartuschen (Namensringe, die die hieroglyphische Schreibung von Königsnamen umrahmen) erinnern. Innerhalb der Ovale sind Schriftzeichen, die teilweise Hierogylphen ähneln, jedoch nicht als solche gelesen werden können. Dass es sich aber um bedeutungsloses Gekritzel etwa eines modernen Touristen handeln könnte, ist schon wegen deutlicher Spuren von Erosion und Patina an den Gravuren auszuschließen.

Dr. Stefan Jakob Wimmer, Ägyptologe und Experte für Schriften des Vorderen Orients an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der die Inschrift bearbeitet und ihre wissenschaftliche Publikation vorbereitet, hat vorgeschlagen, die Schrift als "proto-sinaitisch" zu identifizieren:

»Im rechten Oval sind die Zeichen mit solchen der proto-sinaitischen Alphabetschrift identisch und lassen sich unmittelbar als westsemitischer Personenname lesen. Einige der Zeichen im linken Oval geben zunächst noch Rätsel auf, sodass sich die vollständige Bedeutung des Textes nicht auf Anhieb erschließt. Es dürfte sich am ehesten um ein Namensgraffito, vielleicht mit vorangestelltem Titel, handeln. Die ovale Umrandung muss dabei nicht von ägyptischen Kartuschen inspiriert sein, sondern könnte auch schematische Fußabdrücke andeuten, i.S.v. 'NN stand hier'.

Proto-sinaitische Inschriften wurden bisher, mit nur einer Ausnahme in der Wüste bei Luxor, ausschließlich in Serabit el-Khadem auf der Halbinsel Sinai gefunden. Wie in Timna, schürften auch dort ägyptische Expeditionen unter Einsatz semitischer Arbeiskräfte nach Bodenschätzen, in diesem Fall nach Türkis. Wegen der vergleichbaren Konstellation war eigentlich zu erwarten, dass solche Inschriften auch in Timna hinterlassen worden wären. Endlich gibt es dafür nun eine Bestätigung. Der Duktus der neuen Inschrift weist nun aber zudem einige sehr interessante Varianten auf – z.B. die Verwendung eines sog. Personendeterminativs (das Zeichen eines sitzenden Mannes, das die Schreibung eines männlichen Personennamens abschließt), das bisher bei proto-sinaitischen Texten nicht beobachtet wurde – die, so ist zu hoffen, unser Verständnis von der frühen Alphabetschrift weiter voranbringen werden.

Mit der proto-sinaitischen Schrift befinden wir uns am Ursprung des Alphabets, das sich in der Folge über beinahe die gesamte Welt verbreitet hat. Semitische Kanaanäer, die selbst noch keine Schrift besaßen, entwickelten im 2. Jahrhtausend v. Chr., von ägyptischen Hieroglyphen inspiriert das Prinzip, für jeden Laut (präziser: für jeden Konsonanten) ihrer Sprache ein einziges Zeichen festzulegen und auf diese Weise das äußerst komplizierte ägyptische Schriftsystem mit vielen Hundert Zeichen auf überschaubare rund zwei Dutzend Buchstaben zu reduzieren. Die Vorgänge im Einzelnen, wie, wo und vor allem wann genau sich diese Erfindung, die zu einem Meilenstein der menschlichen Kultur- und Geistesgeschichte wurde, zugetragen hat, sind in der Forschung noch umstritten. Gerade deshalb kommt dem neuen Fund eine enorme Bedeutung zu! Dieses Ur-Alphabet wurde zunächst in Kanaan verwendet und zur hebräischen und aramäischen Schrift weiter entwickelt, aus der später auch die arabische Schrift entstand. Über Phönizien gelangte es zu den Griechen, die es, wiederum in veränderter Form, an die Römer weitergaben, deren lateinische Buchstaben wir heute noch schreiben. So ist im Laufe der Jahrtausende aus dem Auge, mit dem die Timna-Inschrift rechts beginnt, unser lateinisches O und aus den Zickzacklinien unten unser M geworden.«

»StoneWatch – ARAD-Academy e.V. Gesellschaft zur Erfassung vor- und frühzeitlicher Felsbilder« ist eine gemeinnützige wissenschaftliche Einrichtung, die sich der Dokumentation, Erforschung und dem Schutz von Felsbildern auf der ganzen Welt widmet. StoneWatch führt zu diesem Zweck Expeditionen in zahlreiche Länder durch, an denen sich Wissenschaftler und interessierte Laien beteiligen. Die Ergebnisse der Arbeiten werden im Internet publiziert und sind dort für jedermann frei abrufbar. Besonders umfassend ist dabei der 33-teilige Atlas of Petroglyphs, dessen 4. Teil die Felsbilder im Tal von Timna behandelt:

The World of Petroglyphs - Part 4: Timna / Israel (PDF 4,4 MB)

Darüber hinaus findet man auf der StoneWatch-Website auch komplette wissenschaftliche Arbeiten wie Dissertationen und Magisterarbeiten, mehrere E-Books, und weitere Veröffentlichungen zum Thema Felsbilder (alles im PDF-Format).

Wer sich für die Teilnahme an StoneWatch-Expeditionen interessiert, findet auf dieser Seite weitere Informationen: http://www.stonewatch.de/exkursionen/