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Neurologie Mumien mit Migräne

Die Porträts, mit denen ägyptisch-römische Mumien geschmückt wurden, sind große Kunstwerke. Und so realistisch, dass sie noch nach Jahrhunderten Aufschluss über Nervenkrankheiten der Verstorbenen geben.
Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?

London - Man benötigt nicht unbedingt einen lebenden Patienten oder eine frische Leiche, um Nervenkrankheiten nachzuweisen. Auch ein Porträt kann dafür genügen - selbst wenn es knapp 2000 Jahre alt ist. Um das zu beweisen, analysierte eine interdisziplinäre Forschergruppe um die Ägyptologin Susan Walker vom British Museum in London mehr als 200 ägyptische Totenbilder aus der Zeit der römischen Besatzung. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Neurologen und Altertumsexperten in der aktuellen Ausgabe des "Journal of Neurology, Neurosurgery and Psychiatry".

Die Porträts aus den Sammlungen des British Museum und des New Yorker Metropolitan Museum of Modern Art sind Bestandteil eines Totenkultes, der Mitte des ersten Jahrhunderts nach Christus in Ägypten aufkam und etwa 200 Jahre anhielt. Viele der Bilder wurden offenbar schon zu Lebzeiten gemalt und nach dem Tod des Porträtierten auf dem Kopf seiner Mumie angebracht. Die meisten Bildnisse stammen aus der Gegend um die Oase Fayum, wo der britische Archäologe Flinders Petrie 1888 einen großen Friedhof aus römischer Zeit freigelegt hatte.

Der verstörende Realismus der Totenbilder fasziniert die Kunsthistoriker seit langem, nun ermöglichte er den Neurologen eine späte Diagnose. Besonders interessierte die Forscher ein Bildnis, das einen jungen Mann mit seltsam schlaff herabhängendem Mundwinkel zeigt. Walker und ihre Kollegen vermuteten, dass die Entstellung nicht auf die Unfähigkeit des Malers, sondern auf das so genannte Parry-Romberg-Syndrom zurückzuführen ist. Bei dieser seltenen Erkrankung, die mit Epilepsie und Migräne einhergehen kann, bilden sich auf einer Gesichtshälfte das Gewebe und die darunter liegenden Knochen mit zunehmendem Alter immer stärker zurück.

Glücklicherweise existierte neben dem Porträt auch noch der Schädel des Toten. Eine Computertomografie zeigte, dass die Wissenschaftler mit ihrer Annahme richtig lagen: Der Schädel wies im Vergleich zu anderen Fundstücken der Grabungsstelle eine auffällige Asymmetrie auf. Insgesamt untersuchte das Team 32 Schädel aus der Region Fayum, die aber wegen der Sorglosigkeit ihrer Finder nur noch teilweise den Porträts zugeordnet werden können.

Allerdings reichen oft schon die Gemälde aus, um die Symptome neurologischer Störungen aufzudecken. Auf dem Porträt eines anderen jungen Mannes fiel den Wissenschaftlern eine Narbe wie von einem Säbelhieb auf - vermutlich ein Hinweis auf eine andere Spielart des halbseitigen Gewebsschwunds, die wegen den an die Wunden von Hiebwaffen erinnernden Missbildungen als "en coup de sabre" bezeichnet wird. Auch die Lichtreflexe auf den Augen der Porträtierten ließen Rückschlüsse auf mögliche Krankheiten zu. Drei der Abgebildeten schielten vermutlich, eine Ägypterin wies sogar ovale Pupillen auf, was möglicherweise auf eine andere Sehstörung hindeutet, die so genannte Korektopie.

Walker und ihre Kollegen räumen zwar ein, dass es bei der Diagnose nach 2000 Jahren Unwägbarkeiten gibt, zumal die Lichtverhältnisse beim Malen nicht mehr nachvollziehbar sind. Dennoch glauben die Wissenschaftler, dass ihr Befund relativ sicher ist: "Die Porträts sind von überragender künstlerischer Qualität", heißt es in der Studie. "Die Seltenheit der Sehstörungen unter den mehr als 200 Fayum-Porträts spricht dagegen, dass der Maler für die Fehlstellung der Augen verantwortlich ist."

Martin Paetsch